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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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umsonst gewesen sein sollte -, aber Lummer reagierte mit erstaunlicher Kaltblütigkeit: Blitzschnell fuhr er herum, riss einen Schürhaken aus dem geschmiedeten Ständer neben dem Kamin und stürzte sich auf den Strigoi, seine improvisierte Waffe wie eine Keule mit beiden Händen schwingend.
    Stepan machte sich nicht die Mühe, den Säbel zu heben. Reglos wartete er, bis Lummer zuschlug, fing den eisernen Schürhaken mit der Linken ab und riss ihn Lummer aus den Händen. Er ließ ihn los und versetzte dem Polizisten einen Hieb ins Gesicht, der ihn quer durch den ganzen Raum stolpern ließ.
    »Wie nett«, sagte er, als wäre nichts geschehen. »Ein Familientreffen. Aber da fehlt doch noch jemand.« Er sah sich mit übertriebener Gestik um. »Ich muss dringend an meinem Timing arbeiten.«
    Und endlich erwachte auch Lena aus ihrer Erstarrung. Sie legte die Pistole auf ihn an, worauf Stepan einfach verschwand. Blitzartig tauchte er neben ihr wieder auf, um ihr die Waffe aus der Hand zu schlagen. Sie flog davon und prallte irgendwo gegen die Wand. Stepan riss Lena in die Höhe und warf sie hinterher.
    Mit voller Wucht krachte sie gegen die Wand. Vielleicht hätte sie sogar das Bewusstsein verloren, hätte sie nicht in diesem Moment ein gedämpftes Stöhnen gehört und die Stimme als die Toms identifiziert. Das reichte, um den betäubenden Schleier vor ihren Augen und über ihren Gedanken zu zerreißen.
    Sie hätte vor Entsetzen fast aufgeschrien, als sie sah, dass Stepan sich jetzt Tom zugewandt hatte. Sein rechter Fuß ruhte auf Toms Brust und senkte sich unbarmherzig, um ihn zu Tode zu quetschen.
    Lena war mit einem einzigen Satz quer durch den Raum und warf sich mit ausgebreiteten Armen gegen ihn, und es gelang
ihr tatsächlich ihn von den Beinen zu reißen. Sie rollten davon, kamen gleichzeitig wieder in die Höhe, und Lena schnappte in eine geduckte Haltung, die Arme halb ausgebreitet und die Hände zu Klauen geformt, aus denen plötzlich zentimeterlange, rasiermesserscharfe Krallen ragten.
    Stepan schlug mit seinem Säbel zu und hätte sie zweifellos enthauptet, hätte er die Waffe nicht im letzten Moment gedreht, so dass die Klinge mit der flachen Seite gegen ihr Gesicht schlug - allerdings mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Alles explodierte in einer Lohe aus Weiß und Rot und grellem Schmerz. Lena fiel auf den Rücken, und im gleichen Moment erscholl ein gewaltiges Krachen, und eine Stimme schrie: »Lass sie in Ruhe!«
    Stepan ließ tatsächlich von ihr ab und fuhr herum. Lena blinzelte die roten Schlieren vor ihren Augen weg und brachte irgendwie die Kraft auf, sich hochzustemmen.
    Die Tür war halb aus den Angeln gesprengt, und Louise war in der Öffnung aufgetaucht. Sie bot einen entsetzlichen Anblick. Ihre Kleider waren zerfetzt. Ihre Bluse war fast schwarz und schwer von Blut, und über ihrer linken Brust und dem Magen gähnten zwei faustgroße Löcher mit verbrannten Rändern. Blut lief über ihre nackten Unterarme und tropfte an ihren Krallen entlang zu Boden, besudelte ihr Gesicht und ihre Lippen und lief aus ihren Mundwinkeln, was ihr das Aussehen eines grässlichen langhaarigen Clowns verlieh. Etwas bewegte sich unter ihrem Gesicht wie die knöchernen Mandibeln eines Insekts, die durch die Haut brechen wollten. Ihre Augen loderten.
    »Lass sie in Ruhe!«, zischte sie noch einmal, kam mit einem tapsigen Schritt näher und breitete die Arme aus. Ihre Hände waren zu grässlichen dreifingrigen Klauen mit Nägeln wie Dolchklingen geworden, und ihre ganze Gestalt schien zu flimmern, als versuchte sie sich in etwas noch Unbeschreiblicheres zu verwandeln.

    Stepan ging mit einem glucksenden Lachen auf sein unheimliches Gegenüber zu. »Sieh an, sieh an, die Löwin kämpft um ihr Junges«, kicherte er. »Dein Wunsch sei mir selbstverständlich Befehl, Liebste.«
    »Rühr sie an, und ich vernichte dich!«, zischte Louise wie eine Schlange. Die Bewegung unter ihrem Gesicht nahm zu. Da war nicht mehr viel Menschliches an ihr.
    »Hallo, Katharina«, sagte Stepan lächelnd. »Ich habe wirklich lange auf dieses Wiedersehen gewartet. Auch wenn ich mir die Umstände etwas … anders gewünscht hätte.«
    »Leider habe ich mein altes Ballkleid nicht mehr«, antwortete Louise. »Aber ich weiß es zu schätzen, dass du die Kleider aufgehoben hast, in denen wir uns kennengelernt haben, Rasputin.«
    Der Strigoi kicherte und bewegte sich weiter. Die beiden scheinbar so ungleichen Gegner begannen sich zu umkreisen. »Wenn
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