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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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Louise helfen konnten, und da war noch Tom, der vor ihren Augen verblutete. Er war kaum einen Meter entfernt und doch unerreichbar, denn er lag genau im Zentrum des Dreiecks aus goldenem Sonnenlicht, das durch das zerbrochene Fenster hereinströmte; als hätte die Sonne beschlossen, ihn noch in seinen allerletzten Momenten vor ihr zu beschützen.
    Lena sprang auf, stürmte hinter Lummer her und fand einen schmalen Winkel, in dem sie sich aus dem Fenster lehnen und nach unten sehen konnte, ohne von der Sonne verbrannt zu werden. In schon fast überirdisch schönen goldenen Glanz gehüllt, tat Lummer neben ihr dasselbe. Er hielt die Waffe in beiden Händen nach unten, schoss aber nicht. Er hatte kein Ziel.
    Louise und der Strigoi waren zu einem einzigen tobenden schwarzen Knäuel verschmolzen, eingehüllt in Flammen und ein Meer aus orangefarbenen und goldenen Funken, die der Sonne entgegenstrebten, aber sie waren nicht auf den Rasen hinuntergestürzt. Vielmehr befanden sie sich keine fünf Meter unter ihnen und standen aufrecht an der senkrechten Fassade, als hätten sie die Schwerkraft in diesem Teil des Universums kurzerhand außer Kraft gesetzt. Obwohl sie kaum noch mehr als lodernde Schlackeklumpen waren, waren sie zugleich auch unvorstellbar fremdartig und böse, riesige vielgliedrige Wesen jenseits alles Vorstellbaren, Kreaturen, wie sie kein lebendes Menschenauge jemals zuvor erblickt hatte, und schlugen und droschen mit der Wut tobsüchtig gewordener Götter aufeinander ein. Wieder und immer wieder versuchte Stepan sich loszureißen, um dem Ozean tödlichen Lichts zu entkommen, in dem
die Fassade badete, und wieder und immer wieder riss Louise ihn mit fast genauso großer Kraft zurück. Das gesamte Gebäude schien unter ihrem Toben zu erzittern. Fenster explodierten, und hier und da barst sogar die Fassade unter der Urgewalt ihrer Hiebe. Lena konnte regelrecht spüren, wie selbst ihr dämonischer Körper unter dem unbarmherzigen Wüten der Ungeheuer erzitterte. Die schwarzen Chitinplatten zerbarsten, und ihre Glieder zerbrachen.
    Und doch war da etwas, was Louise die Kraft gab, ihn immer noch unerbittlich festzuhalten, ganz egal, was er ihr auch antat. Stepan - das Ding, zu dem er geworden war - begann zu schreien, ein heller, unendlich fremdartiger Laut, wie ihn kein Geschöpf dieses Universums hervorbringen sollte, und immer mehr und mehr orangerote und goldene Funken sprühten aus seinem sich auflösenden Körper.
    Dann war es vorbei. Genau wie Charlotte am Abend zuvor lösten sich Stepan und Louise einfach in pures Licht auf, lautlos und so unvorstellbar grell, dass Lummer mit einem Schrei zurückprallte und beide Hände vors Gesicht schlug und Lena, die sich weiter zuzusehen zwang, tatsächlich für einen Moment erblindete. Als sich die Nerven in ihren Augen regeneriert hatten, war von den beiden Vampiren nichts mehr zu sehen. Es war, als hätte es sie nie gegeben.
    Erschöpft drehte sich Lena um und lehnte sich gegen die Wand neben dem Fenster. Das Hochgefühl des Sieges, auf das sie wartete, wollte sich nicht einstellen. Sie empfand nicht einmal Erleichterung, sondern nur Schmerz und eine abgrundtiefe betäubende Niedergeschlagenheit und das entsetzliche Wissen, versagt zu haben. Sie lebte. Das Ungeheuer - beide Ungeheuer - waren vernichtet, doch was hatte sie gewonnen? Tom war tot, und ganz egal, was sie sich vornahm, wusste sie, dass sie irgendwann zu einem ähnlichen Monstrum werden würde, wenn nicht gar zu einem schlimmeren. Da war keine Louise mehr, die sie
lehren konnte, wie sie mit ihren neu erworbenen Kräften umzugehen hatte, und keine Charlotte, die sie warnte. Sie würde zu einem Ungeheuer werden, einer Botschafterin des Todes, die eine Spur aus Leid und Sterben hinterließ, wohin sie auch kam, durch alle Länder und Kontinente und durch die Jahrhunderte.
    Ihre Entscheidung war schnell getroffen. Sie wandte sich wieder zum Fenster um und spannte die Muskeln. Es würde sicher wehtun, und sie hatte Angst davor, und doch war es die einzige Lösung, wenn Louises Opfer nicht ganz umsonst gewesen sein sollte. Ein kurzer Schmerz, und dann würde sich ihr Körper in Millionen winzige Sonnen auflösen, die endlich nach Hause zurückkehrten.
    »Er lebt noch«, sagte Lummer hinter ihr.
    Lena drehte sich mühsam um, blinzelte die Tränen fort und sah, dass er sich neben Tom hingekniet und dessen Kopf in den Schoß gebettet hatte. Von irgendwoher hatte er einen Fetzen besorgt, um die schreckliche Wunde
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