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Wenn es daemmert

Wenn es daemmert

Titel: Wenn es daemmert
Autoren: Zoe Beck
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BERLIN, SEPTEMBER 1948

    »Dann lass ihn dafür bezahlen.«
    »Wofür?«
    »Du hast gesagt, er interessiert sich für dich. Lass ihn dafür bezahlen!«
    »Was meinst du? Wofür bezahlen?«
    »Das merkst du schon, wenn es so weit ist. Was weißt du über ihn?«
    »Ich weiß nicht … Er ist Offizier. Bei den Fliegern.«
    »Wie alt?«
    »Ich weiß nicht …«
    »Vierzig? Fünfzig?«
    »Nein, nein, jünger …«
    »Sieht er gut aus?«
    »Ich weiß nicht …«
    »Ichweißnichtichweißnicht! Kannst du auch etwas anderes sagen als immer nur Ichweißnicht? Ständig jammern! Sollen wir verhungern? Stell dich nicht so an. Mach, was er von dir will, und lass dich dafür bezahlen. Zigaretten, Schokolade, Strümpfe, alles, was du von ihm bekommen kannst.«
    »Er denkt, ich bin schon viel älter.«
    »Natürlich denkt er das. Du hast ja allen erzählt, du wärst älter. Sonst hättest du nicht im Kasino arbeiten können. Oder denkst du, sie hätten einer Vierzehnjährigen diese Arbeit gegeben?«
    »Du hast mir gesagt, ich soll sagen, ich sei älter.«
    »Und? Haben sie es dir geglaubt? Na also. Und ohne deine Zöpfe siehst du wirklich viel älter aus. Du hast doch gesagt, dir gefällt deine neue Frisur.«
    Sie zuckte die Schultern.
    »Du hast jetzt Locken wie eine erwachsene Frau, und du hast Arbeit wie eine erwachsene Frau. Also benimm dich auch wie eine erwachsene Frau. Ist sonst noch was?«
    Sie schwieg. Malte mit dem Zeigefinger Figuren auf den leeren Küchentisch, ohne Spuren zu hinterlassen. Malte ein Herz auf den Tisch, das niemand sehen konnte. Wischte es schnell wieder weg.
    Ihre Tante fragte wieder: »Ist sonst noch was?«
    »Muss ich alles machen, was er von mir will?«
    »Mach einfach mit, denk nicht darüber nach, denk nur daran, dass er dir immer etwas dafür gibt.«
    »Und wie lange …«
    Ihre Tante antwortete mit einem kurzen, trockenen Lachen. »Frag die Russen, wann sie die Blockade aufheben!«
    »Machen das alle Frauen?«
    »Ja, Schätzchen, das machen alle Frauen.«
    Wieder schwieg sie, und als ihre Tante schon aus der Küche gehen wollte, fragte sie: »Glaubst du, er liebt mich?«
    Ihre Tante blieb stehen, aber sie drehte sich nicht zu ihr um. »Egal, was er sagt, er wird dich nicht heiraten.«
    »Wieso …«
    »Verstehst du denn gar nichts? Wir sind immer noch der Feind.«

1.
    Die schwarze Wolke hob sich langsam und wurde zu einem Raben, der mit ausgebreiteten Schwingen in den Nebel flog. Sie hörte ihn rufen, selbst dann noch, als ihn der Nebel verschluckt hatte und sie ihn nicht mehr sehen konnte. In die Rufe des Raben mischte sich ein Knall, und jetzt lag der Rabe vor ihr auf dem Rasen, die Flügel gebrochen. Dickes, dunkelrotes Blut quoll über sein nachtschwarzes Gefieder, und er starrte sie mit toten Augen an. Sie hörte seine Rufe noch immer, und da begriff sie, dass etwas nicht stimmte. Mit ihr. Sie wand sich vor Schmerz, als sie zu sich kam.
    Der Schmerz saß in ihrem Unterleib, stechend und krampfend. Sie fühlte, dass ihr Körper mit Schweiß bedeckt war, obwohl sie fror. Sie konnte den Schweiß riechen, es war nicht ihr Geruch. Als sie mit der linken Hand nach ihrem Bauch tastete, bemerkte sie etwas Klebriges, Feuchtes, das langsam an ihr herunterlief. Ihre Hand zuckte zurück, und sie drehte sich von der Seite auf den Rücken.
    Das war besser. Die Schmerzen ließen etwas nach, aber sie fror noch immer. Der Boden, auf dem sie lag, fühlte sich wie Teppich an: etwas rau. Sie winkelte ihre Beine an und konzentrierte sich auf die Schmerzen, um herauszufinden, woher sie kamen.
    Es fühlte sich an, als hätte sie ein Messer verschluckt. Aber der Schmerz in ihrem Unterleib war nicht der einzige.
    Zwischen ihren Beinen war noch ein anderer. Viel dumpfer. Mit der rechten Hand tastete sie hinab zu ihren Schamlippen: Sie waren geschwollen und wund. Im selben Moment fiel ihr noch ein Geruch auf – erst jetzt, weil ihre Sinne sich entschieden hatten, sie nicht weiter zu betrügen. Erbrochenes. Das also war das feuchte Zeug auf ihrem Körper.
    Sie öffnete vorsichtig die Augen. Ihre Lider waren so schwer wie der Samtvorhang einer alten Theaterbühne. Die Haut in ihrem Gesicht spannte. Sie sah sich um, konnte aber kaum mehr erkennen, als dass sie in einem Badezimmer war. Es war zu dunkel. Durch das Milchglasfenster drang kaum Licht. Sie war irgendwo zwischen Tag und Nacht. Oder Nacht und Tag.
    Unsicher stemmte sie sich vom Boden hoch und setzte sich auf. Musste sich an den Badewannenrand lehnen und warten,
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