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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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hellen Sonnenschein zu erreichen. Ganz zweifellos war das auch der Grund für dieses halsbrecherische Landemanöver gewesen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Stepan vorhatte, bis zum nächsten Sonnenuntergang hierzubleiben, aber er hatte auch unmöglich vorhersagen können, wie lange seine Mission dauerte.
    Sie verscheuchte auch diesen unangenehmen Gedanken, maß die näher kommende Mauer aus tödlichem Sonnenlicht mit einem letzten Blick und korrigierte ihre Schätzung, wie lange es dauerte, bis es endgültig hell wurde, noch einmal ein gutes Stück nach unten. Aus dem Gebäude drangen noch immer panische
Geräusche, als sie vom Fenster zurücktrat und sich zu Lummer herumdrehte.
    Er stand in leicht gebeugter Haltung da, schmallippig und blass und die linke Hand gegen die gebrochenen Rippen gepresst. Seine Augen funkelten dennoch kampflustig, und Lena zollte ihm widerwillig Respekt. Die meisten Männer, die sie kannte, wären unter der Belastung längst zerbrochen. Hätte sie sich ganz sicher sein können, gegen wen er die Waffe einsetzen wollte, die sie nach wie vor in der Hand hielt, hätte sie sie ihm vielleicht sogar gegeben.
    Lena ging an ihm vorbei und ließ sich neben Tom in die Hocke sinken. Er war wach und saß mit angezogenen Knien an der Wand neben dem Kamin, seine Augen standen weit offen. Aber sie waren auf eine schreckliche Art leer . Manchmal sah er sie an, aber sein Blick schien etwas anderes zu sehen. Lena hatte sich mehrmals gefragt, ob Louise ihre Ankündigung vielleicht wahr gemacht und ihm jegliche Erinnerung an sie genommen hatte. Der Gedanke erfüllte sie mit kaltem Entsetzen.
    Sie wusste nicht, was schlimmer war: die Vorstellung, dass er die Augen aufschlug und sie eine Fremde für ihn war, oder die, dass er sie erkannte und alles über sie wusste und genau das der Grund für den schwarzen Wahnsinn in seinen Augen blieb.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie. Sie bekam auch jetzt nur einen leeren Blick zur Antwort, aber zugleich spürte sie wieder, wie sich etwas in ihr regte, etwas Fremdes und tief Verborgenes, das sie kannte und brauchte .
    Sie rückte ein Stück von ihm weg, spürte kurz ein unendlich enttäuschtes Aufheulen in sich und stand deshalb hastig auf, um die Distanz zwischen Tom und sich zu vergrößern.
    Ging es schon los? Jetzt schon?
    »Gar nichts ist in Ordnung«, schnauzte Lummer hinter ihr. »Wahrscheinlich hat sie ihm den Schädel eingeschlagen! Der Junge muss zu einem Arzt!«

    Lena drehte sich halb zu ihm herum und maß ihn mit einem abschätzenden Blick, dessen wahren Grund er unmöglich erraten konnte. Es war derselbe Grund, aus dem sie nach kurzem Zögern dicht vor ihm stehen blieb, um ihn nervös zu machen. Sie nahm seine Witterung auf, spürte sein Blut und sein schlagendes Herz und seine Wärme, und all das war verlockend und süß und wartete nur auf sie. Aber noch war sie nicht so hungrig, dass sie diesen Drang nicht beherrschen konnte. Was sie dagegen in Tom gespürt hatte, das war … anders.
    Lummer machte einen halben Schritt zurück und deutete auf die Pistole. »Sie sollten das Ding lieber mir überlassen, Lena. Ich kann besser damit umgehen, glauben Sie mir, und ich …«
    Lena brachte ihn mit einer abrupten Geste zum Verstummen. Etwas geschah, das spürte sie. Eine halbe Sekunde später hörte sie es, und noch einmal eine Sekunde danach hob auch Lummer den Kopf und sah mit aufgerissenen Augen zum Lift. Die Kabine kam summend näher, hielt an, und die Tür glitt auf, um einen Albtraum hereinzulassen.
    Es war nicht Louise, wie Lena sich verzweifelt eingeredet hatte, sondern Stepan, und wäre die Situation nur ein bisschen anders gewesen, dann hätte er einen zum Brüllen komischen Anblick geboten. Sein Mantel, den sie jetzt im hellen Licht der Tageslichtlampen erkennen konnte, war nicht dunkelbraun, sondern von einem kräftigen Rot, aber auch über und über mit goldenen Schnüren, Knöpfen und Troddeln besetzt. Weißes Fell lugte an Kragen und Säumen hervor, und beim Anblick der gewaltigen Fellmütze wäre jede englische Palastwache vor Neid erblasst. Er sah wie die schlechte Imitation eines russischen Weihnachtsmanns aus - hätte er nicht einen gekrümmten Kosakensäbel in der Rechten gehalten, von dessen Klinge hellrotes Blut tropfte, und wäre das Gesicht nicht das eines Ungeheuers gewesen, gnadenlos und hart und mit den schwarzen Augen eines menschengroßen Killerinsekts.

    Lena starrte ihn nur an - unendlich enttäuscht, das nun doch alles
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