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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge
Autoren: Adriana Lisboa
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EIN SCHMETTERLING,
EIN VERBOTENER STEINBRUCH
    Es blieb noch etwas Zeit bis zu ihrer Ankunft.
    Der drückend heiße Sommernachmittag stieg als Staub von der Straße auf und dehnte sich in der Luft. Alles war still, oder fast still, träge, von Schläfrigkeit erfüllt. Ein Mann mit weit geöffneten Augen (durchscheinend vor Helligkeit, was ungewöhnlich war) gab vor, seine Gedanken ganz auf die Straße zu richten. In Wahrheit vermaßen seine Augen andere Orte, streiften auf inneren Wegen und lasen Erinnerungsreste auf, wie ein Kind, das am Strand Muscheln sammelt. Gelegentlich drängte die Gegenwart herein, unterbrach ihn, und er dachte: Bei meinem nächsten Bild werde ich mit Erde arbeiten. Doch dann zog diese braune, dürre, staubige Welt sich wieder zurück, und vor seinem geistigen Auge erschien ein jungfräuliches Weiß, ein weißgekleidetes Mädchen, das ihn an ein Gemälde von Whistler denken ließ.
    Tomás erinnerte sich. Die Liebe. Was war aus ihr geworden?
    Von der Liebe war nur ein blasser Abdruck geblieben, wie von einem Bild, das viele Jahre an derselben Stelle hing. Doch sie hatte Spuren auf seiner Seele hinterlassen, in seinen hellen Augen, auf dem verblichenen Abbild seiner selbst. Früher hatte die Liebe in ihm geschrien, hattesein Innerstes entflammt. Das war nun vorbei. Selbst die Erinnerung war trügerisch, bruchstückhaft. Zufällig erhaltene Skelettteile eines prähistorischen Ungetüms. Unmöglich, ein einheitliches Ganzes wiederherzustellen. Dreißig Jahre danach. Zweihundert Millionen Jahre danach.
    Zu Tomás’ Füßen schlief der Hund und träumte, ohne die Erinnerung an ein Mädchen in Weiß. Ab und zu winselte er. Dann hob er plötzlich den schwarz-weiß gefleckten Kopf und biss sich in die Pfote, um einen Sandfloh zu entfernen. Die Perlhühner der Köchin Jorgina gackerten unbeachtet vor sich hin. Es war ein glanzloser Nachmittag, wie ein altes Stück Gummi, ein abgefahrener Reifen. Ein Fossil, zweihundert Millionen Jahre alt.
    Die Bougainvilleen blühten hemmungslos, fast aggressiv, die Zweige trieben in alle Richtungen und trugen Stacheln, im Widerspruch zur Zartheit ihrer Blüten. Diese Bougainvilleen waren lange vor Tomás da gewesen und würden es womöglich noch sein, wenn er auf die eine oder andere Weise gegangen war.
    Der Hund, der weder Namen noch Herrn besaß, der dieses Haus einfach als das seine auserkoren hatte und die Speisereste, die die Köchin zwei Mal täglich auf Zeitungspapier neben den Wassertank legte, als die seinen ansah, kümmerte sich nicht weiter um den Sandfloh und versank wieder in seinen geheimnisvollen Träumen.
    Geheimnisvoll wie die Träume von Säuglingen. Oft hatte Tomás sich gefragt, was für Träume wohl im Gehirn eines Neugeborenen herumschwirrten. Waren es Erinnerungen an den Uterus? Flüssige, rötliche Träume? Einmalstellte er sich vor, dass ein Säugling vom Augenblick seiner Empfängnis träumte, als hätte er sie miterlebt, als hätte er, aufmerksam beobachtend, sämtliche Phasen der eigenen Entwicklung Schritt für Schritt mitverfolgt. Ein Zellhaufen, von der Wissenschaft mit unpoetischen Namen bedacht: Morula, Blastula, Gastrula, ein Embryo, ein Fötus. Der die halbbewusste Überzeugung in sich trug, von Anfang an, seit der Befruchtung der Eizelle, durch eine Art genetische Information seine Mutter zu kennen.
    Und seinen Vater.
    War das tatsächlich so? Man konnte es nicht mit Sicherheit sagen.
    Immer wieder wurden seine hellen Augen feucht. Schon als Kind hatte Tomás die seltsame Angewohnheit gehabt, sie so lange wie möglich aufzuhalten, ohne zu blinzeln, in einer grausamen Wette gegen sich selbst, aus der er jedes Mal als Gewinner und Verlierer zugleich hervorging. Am Ende kamen ihm die Tränen. Und auch an diesem heißen und trockenen Nachmittag lösten sich aus seinen Augen zwei silbrige Fäden, die niemand sah, weder der Hund noch die Köchin Jorgina. Verbargen sich in diesen Tränen Worte? Oder waren es Tränen jenseits der Worte, jenseits der Welt, jenseits dieses schläfrigen Nachmittags und des intensiven Sommers, der ihm noch hier in seinem Schlupfwinkel in sämtliche Poren drang?
    Tomás war kein glücklicher Mensch. Aber auch kein unglücklicher. Er fühlte sich ausgeglichen , dafür hatte er einen angemessenen Preis gezahlt, wie er fand, und erhieltdie entsprechenden Zinsen mit Inflationsausgleich. Er hatte einiges aufgegeben. Auf den Traum von einem Königreich verzichtet. Nun herrschte er nur noch über sich selbst und über
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