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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge
Autoren: Adriana Lisboa
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jähen Abgrund: Dort unten in dem verlassenen Herrenhaus einer nach ihren Ipê-Bäumen benannten Fazenda gingen Gespenster um. Runde Schnecken zogen langsam Streifen über die schlafenden Mauern. Sukkulenten wuchsen auf dem Dach. Von den Fensterrahmen blätterte die Farbe. Alles verwitterte und wurde mit jedem Tag geheimnisvoller. Schmerzlicher. Wie andere Dinge, die Maria Inês bald nur allzu gut kennenlernen sollte.
    Habe ich dir schon von der Ipê-Fazenda erzählt?, fragte sie João Miguel, und er log, verneinte, weil er noch einmal die Geschichte von dem Lynchmord hören wollte.
    Es heißt, erzählte sie, der Gutsbesitzer sei durchgedreht, als er seine Frau mit einem anderen erwischte. Du weißt, wie das ist. Er ging in die Küche und schnappte sich ein großes Messer. Wahrscheinlich war er betrunken. Ich weiß nicht, ob jemand so was tun würde, wenn er nicht betrunken ist. Vielleicht war er auch verrückt. Jedenfalls nahm er das Messer und tötete seine Frau, seine eigene Frau! Kannst du dir das vorstellen? Siebzehn Mal hat er zugestochen. Ihr Geliebter konnte fliehen, er hat die Polizei gerufen, und der Mann wurde verhaftet.
    Maria Inês machte eine Pause, wog das Schweigen auf der Zungenspitze und kostete seinen süß-sauren Geschmack: wie von Tamarindenbonbons. Dann sprach sie weiter, sie war eine erfahrene Geschichtenerzählerin, undschilderte, wie die spärliche Einwohnerschaft des friedlichen Jabuticabais in Wut geriet, sich wie eine Flutwelle erhob, die Polizeiwache stürmte und den Mörder auf offener Straße lynchte, mit Knüppeln und Steinen und danach mit Feuer. Die Tochter des Mannes, dieses unglückselige Geschöpf, erbte die Ländereien und musste vorzeitig reifen wie eine Frucht im Treibhaus. Lindaflor war ihr Name, die kleine tapfere Lindaflor, die in der Gegend zu einer Art Mythos wurde. Die einen behaupteten, sie sei blond gewesen wie ein Engel, andere schworen, sie habe feuerrote Haare und eine schneeweiße Haut gehabt. Wieder andere erklärten sie für dunkelhäutig wie eine Indianerin, mit dickem, glattem Haar. Mal war sie falsch wie die Mutter, mal gewalttätig wie der Vater, dann wieder sanftmütig und geistesgestört. Die Angaben über ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort schwankten gleichfalls. Man sagte, sie lebe bei Tante und Onkel in Friburgo oder bei ihren Vettern in Rio de Janeiro. Vielleicht sei sie aber auch ins Ausland gegangen, nach Deutschland, wo sie bei einem Musikerehepaar aufwachse, einem deutschen Pianisten und einer brasilianischen Cellistin (niemand wusste, woher diese ebenso einfallsreiche wie unwahrscheinliche Vermutung stammte). Nichts von all dem konnte Maria Inês ihre Eltern fragen, denn diese Angelegenheit zählte selbstverständlich zu den verbotenen Dingen.
    Die verbotenen Dinge reizten Maria Inês im selben Maße, wie sie Clarice ängstigten, ihre ältere Schwester, die schon bald dreizehn wurde und gehorsam war wie einabgerichtetes Hündchen. Die sich von dem großen Steinbruch fernhielt und keine Fragen über die Tragödie auf der Ipê-Fazenda stellte. Über die verbotenen Dinge.
    Willst du wissen, was ich mit meinem Anteil machen werde?, fragte Maria Inês ihren Cousin zweiten Grades und bezog sich auf den Geldbaum, auf den Tag, an dem er groß und mit Münz-Früchten behangen sein würde. Ich werde reisen, sagte sie. Mit dem Schiff, bis nach Europa.
    João Miguels Antwort sollte unbekümmert klingen, doch eine tiefe Traurigkeit ließ ihn den Blick senken. Mein Vater reist viel, sagte er. Bis nach Europa. Mit dem Flugzeug und mit dem Schiff.
    Einen Geldbaum zu säen und eine Münze als Samen zu verwenden war natürlich ihre Idee gewesen, ein Vorschlag der erfinderischen, kühnen, neugierigen Maria Inês. Sie sah ihren Cousin mitfühlend an. Wenn João Miguel an seinen Vater dachte – und in solchen Momenten wurde er schwermütig wie ein verregneter Montag –, überkam sie stets das Bedürfnis, ihn zu beschützen, den armen verlassenen Cousin, ihn in die Arme zu schließen. Er reiste viel, sein Vater. Bis nach Europa, in seine italienische Heimat. Mit dem Flugzeug. Mit seiner Geliebten. Während seine Frau in einer psychiatrischen Klinik dahinsiechte. Über diese Einzelheiten Bescheid zu wissen war selbstverständlich absolut verboten, aber Maria Inês hatte eine sichere Methode entwickelt, die Gespräche der Erwachsenen zu belauschen. Bis nach Europa. Mit seiner Geliebten. Und der einzige Sohn musste die drei Ferienmonate aufder Fazenda seiner Cousinen
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