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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge
Autoren: Adriana Lisboa
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vonsiebzig Jahren zurückgezogen hatte. Voller Lebenskraft und Lust auf Chianti und immer jüngere Geliebte.
    João Miguels Flug ging am Abend. Zunächst wollte er einen Zwischenstopp in Cortina d’Ampezzo einlegen. Eduarda hatte ohnehin beschlossen, ihre Mutter zu jenem anderen Ziel zu begleiten. An einen Ort im tiefsten Herzen des Bundesstaates Rio de Janeiro, wo sie ihre Tante Clarice wiedersehen würde. Ein Ort, den kein Tourist je besucht hatte und an dem, wie sie bald entdecken sollte, bei helllichtem Tage viele Geheimnisse vor sich hin schlummerten.
    Normalerweise wären Maria Inês und João Miguel gemeinsam geflogen. Sie wäre an seiner Seite gewesen, hochgewachsen und so geschickt gekleidet, dass die Unzulänglichkeiten ihres Körpers abgemildert würden, mit dem erlernten, richtigen Lächeln im Gesicht, mit ihrer duftenden, genau bemessenen Gegenwart, nicht zu auffällig, nicht zu unscheinbar. Dinge, die sie wie die Syntax einer neuen Sprache beherrschte, so perfekt einstudiert, dass die Erinnerung an die ursprüngliche Sprache allmählich verblasste.
    Aber noch immer verbargen sich in ihr Gefühle, die sie nur mit ihrem alten Wortschatz auszudrücken vermochte, dem groben Wortschatz eines ungezogenen Mädchens. Eines Mädchens, das sich gern über Verbote hinwegsetzte. Das sich für die Fazenda und gegen die Villa Papa Azzopardis entschieden hatte. Für das eigene Leben und gegen das Leben der anderen. Und auch für die eigenen Geheimnisse, für das eigene freiwillige Exil. Für die eigenenSümpfe, in denen auch jetzt noch verwundete Ungeheuer umherirrten, so lange danach.
    Sie faltete die Zeitung zusammen und setzte die Lesebrille ab. Dann empfahl sie João Miguel, sich einen Umschlag mit Eiswürfeln zu machen und ein entzündungshemmendes Mittel zu nehmen.
    Es gibt ein neues Medikament, angeblich geht es nicht auf den Magen.
    João Miguel gab keine Antwort, sondern machte nur eine abwehrende Handbewegung. Trotz ihres Examens vertraute er den medizinischen Ratschlägen seiner Frau nicht restlos. Maria Inês wusste das, sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. Wenn es sehr weh tut, sagte sie, ruf Vargas an. Er ist Fachmann. Die Nummer steht in meinem Adressbuch.
    Sie erhob sich und durchquerte langsam den Raum.
    Ich geh in die Wanne, sagte sie, und ihre nackten Füße spürten die kalte Berührung des Bodens.
    Das Badezimmer war nicht gekühlt, dort herrschten Temperaturen wie in einem Treibhaus. Maria Inês warf einen Blick auf den winzigen Ziergarten hinter der Duschkabine. Ein Miniaturgarten mit kleinen dickblättrigen Pflanzen, die anmutige Blüten hervorbrachten. Wenn Eduarda noch ein Kind gewesen wäre, hätte sie dort mit ihren Puppen spielen können. Mit ihren Barbies. Aber Eduarda war schon fast erwachsen, und außerdem hasste sie Barbies. Baywatch -Puppen, sagte sie. Wenn ich einmal eine Tochter bekomme, werde ich ihr eine Stoffpuppe zum Spielen geben (bei Fünfzehn- oder Sechzehnjährigenkonnte daraus rasch eine flammende Rede gegen den nordamerikanischen Kulturimperialismus und alles andere werden).
    Maria Inês begann sich vor dem Spiegel zu entkleiden. Automatisch. Sie hatte nicht die Absicht, die eigene, ihr hinlänglich bekannte Nacktheit zu betrachten. Sie war mit ihrem Körper völlig einverstanden. Mit einer flüchtigen Bewegung entledigte sie sich ihres T-Shirts und sah sich der gewohnten intimen Wahrheit gegenüber, ihrem Körper, der in keiner Weise an Barbies oder andere genormte Schönheiten erinnerte, an kategorisierbare oder verkaufsfördernde Kurven. Ihre Hüften waren ein wenig breit, und ihr Bauch war weit davon entfernt, flach wie ein Brett zu sein. Ihre mädchenhaften Brüste, die eine Tochter gestillt hatten, waren immer noch mädchenhaft klein und zart. Sie hatte eine Narbe am Unterleib, von der Blinddarmoperation fünf Jahre zuvor. Und wenn sie den Slip abstreifte, konnte man eine rosafarbene Linie erkennen, vielleicht zehn Zentimeter lang, ein Mal, das der Kaiserschnitt hinterlassen hatte.
    Sie öffnete das Schränkchen und griff nach der blauen Tube: Lancôme, Paris. Gommage pur. Gelée exfoliante. Activation et lissage (Exfoliating gel. Stimulation – smoothness). Soin du corps. Vitalité. Douceur. Sie wusste nicht genau, woher sie das Peeling hatte, aber es roch gut und fühlte sich angenehm an, ein bisschen rau, auf sanfte Art rau. Und es war blau, ihr Gelée exfoliante, vom gleichen unwirklichen Blau wie der Dezemberhimmel, der wie ein Fluch über Rio de
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