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Die Erfindung des Jazz im Donbass

Die Erfindung des Jazz im Donbass

Titel: Die Erfindung des Jazz im Donbass
Autoren: Serhij Zhadan
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ERSTER TEIL

    1
    Telefone existieren, um unangenehme Dinge mitzuteilen. Telefonstimmen klingen kalt und offiziell, mit offizieller Stimme lassen sich schlechte Nachrichten leichter überbringen. Ich weiß, wovon ich rede. Mein ganzes Leben habe ich gegen Telefonapparate gekämpft, aber ohne Erfolg. Immer noch werden in aller Welt Telefongespräche mitgehört und die wichtigsten Wörter und Ausdrücke auf Karteikärtchen notiert, und in Hotelzimmern liegen Bibeln und Telefonbücher – damit niemand vom Glauben abfällt.
    Ich schlief angezogen. In Jeans und ausgeleiertem T-Shirt. Ich wachte auf, ging durchs Zimmer, stolperte über leere Limonadenflaschen, Gläser, Dosen und Aschenbecher, ketchupverschmierte Teller, Schuhe, zertrat mit bloßen Füßen Äpfel, Pistazien und fette Feigen, die Kakerlaken glichen. Wer möbliert mietet und in fremden Sachen wohnt, lernt mit Dingen achtsam umzugehen. In meiner Bude gab es allen möglichen Plunder, wie auf dem Flohmarkt, unter dem Sofa steckten Grammophonplatten und Hockey-Schläger, von irgendwem vergessene Frauenkleider und irgendwo aufgefundene große Verkehrsschilder aus Blech. Wegschmeißen konnte ich nichts, weil ich nicht wusste, was mir gehörte und was fremdes Eigentum war. Vom ersten Tag an, seit ich hier eingezogen war, lag der Telefonapparat mitten im Zimmer auf dem Boden, und sein Läuten und sein Schweigen schürten meinen Hass. Vorm Schlafengehen stülpte ich einen großen Pappkarton darüber, den ich morgens wieder zurück auf den Balkon brachte. Jetzt lag der teuflische Apparat mitten im Zimmer und ließ aufgeregt vibrierend wissen, dass mich jemand sprechen wollte. Donnerstag, fünf Uhr morgens.
    Ich schälte mich aus der Decke, nahm den Pappkarton ab und ging mit dem Telefon auf den Balkon. Im Hof war es still und leer. Durch die Seitentür der Bank trat der Wachmann zu einer morgendlichen Zigarettenpause. Um fünf Uhr morgens angerufen zu werden bedeutet nichts Gutes. Ich unterdrückte meinen Ärger und hob ab. So hat alles angefangen.
     
    – Kumpel. – Ich erkannte Kotscha sofort. Seine Stimme klang verraucht, als hätte man ihm alte gerissene Boxen implantiert.
    – Harry, Freund, schläfst du? – Die Boxen ächzten und spuckten Konsonanten aus. – Harry, hallo.
    – Hallo, – sagte ich.
    – Freund, – fügte Kotscha mit mehr Bass hinzu. – Harry.
    – Kotscha, es ist fünf Uhr früh. Was willst du?
    – Harry, hör zu. – Kotscha verfiel in zutrauliches Fiepen. – Ich hätte dich nicht geweckt. Aber hier ist so ein Schlamassel, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Gestern hat dein Bruder angerufen.
    – Und?
    – Er ist weggefahren, Hermann. – Kotscha am anderen Ende hielt den Atem an.
    – Weit weg? – An die Dynamik seiner Stimme konnte ich mich nur schwer gewöhnen.
    – Weit weg, Hermann. – Wenn Kotscha einen neuen Satz anfing, schepperte es. – Nach Berlin oder nach Amsterdam, ich hab es nicht richtig verstanden.
    – Vielleicht über Berlin nach Amsterdam?
    – Vielleicht, Harry, vielleicht, – rasselte Kotscha.
    – Und wann kommt er wieder? – Ich war erleichtert. Eine Routineangelegenheit, er wollte mir einfach Neuigkeiten aus der Familie mitteilen.
    – Wie’s aussieht, nie, Harry. – Wieder schepperte der Hörer.
    – Wann?
    – Nie, Harry, nie. Er ist für immer weggegangen. Gestern hat er angerufen und mich gebeten, es dir auszurichten.
    – Wie – für immer? – Ich verstand nicht. – Alles klar bei euch?
    – Alles klar. – Kotscha zerriss es auf den hohen Tönen. – Alles klar. Nur dass dein Bruder mir alles vor die Füße geschmissen hat, kapiert?! Und ich, Harry, ich bin alt, ich pack das nicht allein.
    – Wie – hingeschmissen? – Ich verstand immer noch nicht. – Was hat er gesagt?
    – Dass er in Amsterdam ist, dass ich dich anrufen soll. Und dass er nicht zurückkommt.
    – Und die Tankstelle?
    – Und die Tankstelle hat er mir vor die Füße geschmissen, Harry. Nur pack ich das nicht allein. – Kotschas Krächzen wurde zutraulicher. – Ich schlafe schlecht. Siehst du, fünf Uhr morgens, und ich kann nicht schlafen.
    – Ist er schon lange fort? – unterbrach ich ihn.
    – Schon eine Woche. Ich dachte, du wüsstest Bescheid. Und jetzt so ein Schlamassel.
    – Aber warum hat er mir nichts davon erzählt?
    – Weiß nicht, Harry, keine Ahnung, Kumpel. Er hat niemandem was erzählt, ist einfach auf und davon. Wollte vielleicht nicht, dass jemand was spitzkriegt.
    – Was spitzkriegt?
    – Dass
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