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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge
Autoren: Adriana Lisboa
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unfreiwilliges, trauriges Lächeln, ein geheimnisloses Lächeln, als sie daran dachte, dass sie sich letztlich selbst überlebt hatte.
    Der Ringfinger ihrer linken Hand war nackt, sie trugkeinen Ehering mehr. Der, in dem früher einmal der Name Ilton Xavier eingraviert stand, war längst verkauft. Verkauft und als Kokain geschnupft. Und die Narben, die das Olfa-Messer hinterlassen hatte, hatten Wucherungen gebildet. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich in der Öffentlichkeit zeigte, verbarg Clarice sie normalerweise unter Armreifen und einer Uhr. Im Moment brauchte sie so etwas nicht. Sie lief barfuß herum, trug ein altes weißes Hering-T-Shirt, das zu groß und mit Ton beschmiert war, und hatte die Haare zu einem nachlässigen Knoten gebunden. Das war die unverstellte Clarice.
    Inmitten der Wohnzimmermöbel, die so viele Angriffe der Zeit überstanden hatten – die Zeit steht still, aber die Lebewesen (die Dinge, die Worte) leben weiter . Das senffarbene Polster des großen Liegesessels war an mehreren Stellen fadenscheinig, genau wie Clarices Erinnerung, wenn sie daran dachte, wie sie sich früher dort nach dem Essen im Schoß eines heißen, trockenen Nachmittags ausgeruht hatte und angstfrei eingeschlafen war. Als in ihrem Leben noch die naive Hoffnung des Davor geherrscht hatte. Neben dem kalten Kamin lagen ein paar Holzscheite, zwischen denen winzige Spinnen ihre Netze webten. Das Schüreisen war völlig verrostet. Der Teppich war ausgeblichen, aber gepflegt. Und Otacílias Porträt war nur ein klein wenig vergilbt. Ein Porträt, das angesichts ihrer Geschichte die Hände in Unschuld wusch. Es hing immer noch am selben Fleck, und es stand Clarice nicht zu, es von dort zu entfernen, es stand ihr nicht zu, irgendeine Haltung bezüglich des Andenkens an ihre Mutter einzunehmen,sie hatte kein Recht dazu, denn Otacília war für sie beinah eine Fremde gewesen. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag neben dem übervollen Aschenbecher ein Exemplar von Thomas Manns Tod in Venedig . Eine Lektüre, die Otacília und Afonso Olímpio strengstens verboten hatten und die nun das beschmutzte, was von ihrem Geist in diesem Haus fortbestehen mochte. Wie um die Verfehlung auszugleichen, öffnete der Altar seine zierlichen Holztüren und zeigte das Bildnis der Jungfrau mit dem Jesuskind auf dem Schoß. In einer kleinen (in Ouro Preto, in Afonso Olímpios Heimatstaat Minas Gerais erworbenen) Vase aus Speckstein standen getrocknete Blumen, die den herben Geruch der vernachlässigten Dinge verströmten.
    Drei der vier Schlafzimmer dämmerten stumm vor sich hin. Sie stellten nur mehr etwas Mögliches dar oder etwas beinah Mögliches, alles, was nicht gewesen war und nicht mehr sein konnte. Einmal pro Woche wurden die Fenster geöffnet, und das Sonnenlicht malte sanfte Streifen auf den Boden. Die Zimmer wurden gekehrt und von Staub befreit, die Möbel mit Politur behandelt, während die Eidechsen und Spinnen sich in den Ritzen versteckten und warteten, dass die Unruhe nachließ.
    Das vierte Zimmer bewohnte Clarice, sie hatte dieses Zimmer schon immer bewohnt, und nie war es ihr gelungen, daraus zu fliehen. Warum sollte sie es sich nicht eingestehen? Jetzt, da ihre Eltern nur noch als Namen auf einem Grabstein in Jabuticabais existierten, der Großteil des Landes verkauft war und der warme Wind des Vergessensjede Ritze des Gutes erobert hatte – den leeren Stall, den leeren Speicher, die Schuppen, die Garage des Traktors, den unbrauchbaren Motor des Traktors und seine ziemlich verrostete Karosserie –, jetzt konnte Clarice sich eingestehen, dass sie keinen einzigen Schritt vorwärts gemacht hatte. Die Überwindung der Angst bedeutete noch nicht Bewegung (den Mut zur Bewegung oder die Selbstverständlichkeit der Bewegung), sondern war eher wie ein weißes Blatt Papier, auf dem kein Wort seine Spur hinterlassen möchte.
    Clarice begrub den Nachmittag mit einem langen Seufzer und beobachtete die ersten Fledermäuse, die zwischen den Bäumen umherflogen und leise pfiffen. Dabei kam ihr eine Idee, die sich in einen Entschluss verwandelte und ihr zum Abendessen eine Flasche Wein empfahl – obwohl sie gar keine alkoholischen Getränke im Haus hatte und es außerdem sehr heiß war. Ja, natürlich, es war sehr heiß, und deshalb wollte sie sich ein Sandwich mit kaltem Braten, ein paar Tomatenscheiben und einem Salatblatt machen und danach so tun, als läse sie Der Tod in Venedig , während die elektrische Aufladung der
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