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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind
Autoren: Carola Clasen
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1. Kapitel
    Noch acht Stunden und elf Minuten. Ausgerechnet heute Morgen hatte Hauptkommissar Hans Roggenmeier, Leiter des Kriminalkommissariats Euskirchen, seiner Mitarbeiterin Sonja Senger eine Leiche auf den Tisch gelegt. Nicht
in persona
natürlich, sondern in Form eines Berichts aus der Rechtsmedizin Bonn, der mit schauerlichen Fotos gespickt war. »Sie haben doch was übrig für tote Männer«, hatte er spöttisch hinzugefügt.
    Zu seinen Gunsten ging sie davon aus, dass er auf seine charmante Art ihre frühere Tätigkeit für die Trierer Mordkommission andeuten wollte. Sie ahnte aber auch, dass der Spott in seiner Stimme ihrer derzeitigen Arbeitsmoral galt. Völlig unnötige Bemerkung, denn sie wusste selbst, dass sie schon engagierter gewesen war. Aber sie war keine Maschine. Sie hatte derzeit Wichtigeres im Kopf.
    Sie bedankte sich artig, dass er an sie gedacht hatte, und begann, die Unterlagen durchzublättern. Kaum hatte Roggenmeier ihr Büro verlassen, klappte sie den Aktendeckel zu und sah wieder auf die Uhr.
    Noch acht Stunden.
    Nichts gegen einen Mordfall. Mord war die Königsdisziplin. Aber das Timing war schlecht. In spätestens einer Stunde musste Sonja nach Hause fahren, um sich dort sorgfältig vorzubereiten. Die Kleiderordnung für den Abend war noch nicht entschieden. Etwas Kühles oder Warmes? Der Mai war unberechenbar, niemand wusste, wie das Wetter sich im Laufe eines Tages entwickeln würde. Himmel, wie sollte sie sich da auf einen Mord konzentrieren können?
    Widerwillig schlug sie die Akte nochmals auf. Bei der Leiche handelte es sich um einen unbekannten Mann, von dem der Bonner Rechtsmediziner Dr. Gehring nach der genetischen und toxikologischen Untersuchung behauptete, dass weder Gift in seinen Blutbahnen noch Wasser in seiner Lunge zu seinem plötzlichen Ableben geführt hatten. Auch Alkohol, nicht mehr als 1,2 Promille, konnte nicht die Todesursache gewesen sein. Der Mann war im Müll erstickt. Wie das Gesicht des Mannes ursprünglich ausgesehen haben mochte, war nicht mehr zu erkennen.
    Sein Alter schätzte Dr. Gehring auf vierzig Jahre. Seine Körpergröße betrug zirka 186 Zentimeter, sein Gewicht etwa 89 Kilogramm. Dunkles, kinnlanges Haar, dunkle Augen, helle Haut. Ansonsten keine besonderen Merkmale, bis auf eine alte Blinddarmnarbe. Der Körper war von vielen Wunden übersät. Nahezu kein Körperteil war verschont geblieben, Quetschungen und Hämatome, Schürf-und Kratzwunden zogen sich vom Kopf bis zu den Füßen. Beim Todeszeitpunkt legte sich der Rechtsmediziner auf die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai fest.
    Eine ganze Reihe sogenannter anhaftender Spuren hatte die Kriminaltechnik bereits vorab sichergestellt. Im letzten Punkt auf der langen Liste war die Rede von mehreren Knutschflecken im Schulter-und Halsbereich. Moment! Sonja musste den letzten Punkt zweimal lesen. Knutschflecke. War er ein Opfer häuslicher Gewalt geworden?
    Seit dem letzten hochdramatischen Fall, den Kollege Michelsen eher zufällig hatte aufdecken können, war sie sensibilisiert.
    Michelsen hatte zum Abschluss seiner Ermittlungen im Trierer Verein
Talisman
, einem sogenannten Männerbüro, ein Seminar abgehalten. Er war, gelinde gesagt, irritiert gewesen, als er zurückkehrte. Seine Erfahrungen hatten im Kommissariat schnell die Runde gemacht. Wissen, das nicht neu für die Kollegen war, wurde durch den aktuellen und detaillierten Bericht allen noch einmal ins Bewusstsein gerufen. Ein Thema, bei dem sich alle gleich schwer taten. Die männlichen Kollegen griffen es mit spitzen Fingern auf, es war ihnen nicht geheuer. Den Polizistinnen schien es peinlich. Wer von ihnen hatte nicht schon einmal einen Schuh oder einen Teller geworfen?
    Sonja Senger müsste sich bei diesem Thema eingestehen, dass sie wohl eher der verbale Typ war, der nur mit Worten handgreiflich wurde. – Nur? Das machte es nicht besser. Sicherer war es, keine Angriffsfläche zu haben. Und das war zurzeit der Fall.
    Wie lange noch? Sie sah auf die Uhr. Noch sieben Stunden und zwanzig Minuten.
    Sonja fühlte sich zwischen Pflicht und Kür hin und her gerissen. Während der magere Inhalt ihres Kleiderschranks vor ihrem inneren Auge an ihr vorbeizog, ohne dass sie bei einem Teil mit Überzeugung hätte »Stopp« sagen können, versuchte sie sich auf den Bericht des Rechtsmediziners zu konzentrieren. Er führte von der Beschreibung des Toten zum Fundort, der laut Kriminaltechnik nicht der Tatort sein konnte. Wie auch – der Mann ohne
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