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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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nicht scharf auf ihr Pin-up-Foto in den Fahndungscomputern der Polizei), spuckte sie den Kaugummi in die hohle Hand und klatschte den klebrigen Batzen auf die Rückseite des Smartphones. Dann klebte sie es so unter den Rand des Automaten, dass die 4-Megapixel-Kamera das gesamte Tastenfeld aufnehmen konnte. In einer perfekten Pantomime entnahm sie dem Automaten sowohl ihre niemals hineingeschobene Karte als auch das vermeintliche Geld, steckte ihre virtuelle Beute ein und schlenderte auf die andere Straßenseite. Jetzt war die oberste Tugend eines Diebes angesagt: Geduld.
    Eine Menge Geduld.
    Lena setzte sich rittlings auf ein Mäuerchen, das den Gehsteig von den vertrockneten Resten eines Grünstreifens trennte, der sich unter den Betonpfeilern der Hochbahn dahinzog, und behielt die Treppe zur Haltestelle im Auge, so als wartete sie auf jemanden, der mit der Bahn kam. In Wahrheit beobachtete sie aus den Augenwinkeln ausschließlich den Geldautomaten.
    Niemand schien sich für das verdammte Ding zu interessieren, abgesehen von einem vielleicht fünf- oder sechsjährigen Jungen, der eine Zeit lang auf dem Gehsteig davor auf und ab hüpfte und sich schließlich trollte.
    Lena sah ihm mit einem zärtlichen Lächeln auf den Lippen nach, dessen sie sich selbst nicht bewusst war. Sie liebte Kinder, auch wenn sie sich fest vorgenommen hatte, niemals selbst Kinder in eine Welt zu setzen, in der es schon den meisten Erwachsenen schwerfiel, über die Runden zu kommen. Ihr Blick
folgte dem Knirps, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden war, und kehrte dann zum Geldautomaten zurück.
    Die Hochbahn kam, hielt an und fuhr wieder ab, ohne dass sich auch nur eine Seele für den EC-Automaten interessierte. Lena begann sich allmählich zu fragen, was wohl zuerst aufgeben würde - der Akku des geklauten Handys, der Speicherplatz der eingelegten SD-Karte oder ihre Geduld -, als endlich ein Kunde an den Automaten trat, eine ältliche Frau mit strähnigem grauem Haar, ausgelatschten Schuhen und Kleidern, die ihre besten Tage schon etliche Jahre hinter sich hatten.
    Lena seufzte lautlos. Das war niemand, den sie bestehlen würde. Vielleicht hatte sie doch das falsche Jagdrevier gewählt.
    Sie beschloss, die nächste Bahn noch abzuwarten und dann ihr Handy zu holen und sich zu verkrümeln, wenn sich nichts änderte. Vielleicht sollte sie doch einen Automaten wählen, der neben einer Joop-Filiale lag, nicht neben einem Aldi.
    Die Bahn kam, spuckte eine Handvoll Fahrgäste aus, und Lena verlängerte ihre sich selbst gewährte Frist noch einmal so lange, wie sie brauchte, um in Gedanken langsam bis hundert zu zählen, bevor sie endgültig aufgab. Immerhin hatte sie heute etwas gelernt. Auch wenn sie selbst noch nicht so genau wusste, was.
    Gemächlich schlenderte sie über die Straße zurück, betrachtete mit perfekt geschauspielertem Desinteresse die bunten Prospekte mit den Angeboten der Woche im Schaufenster und machte dann mitten im Schritt kehrt, als hätte sie das Schnäppchen ihrer Träume im letzten Moment doch noch entdeckt.
    Es waren zwei völlig unterschiedliche Gründe, die sie so jäh die Richtung wechseln ließen. Der eine war das total absurde, aber schon fast körperlich spürbare Gefühl, beobachtet zu werden, nicht beiläufig und desinteressiert wie von einem Passanten oder einem gelangweilten Verkäufer, der aus dem Laden auf die Straße heraussah und sich fragte, wie viele endlose Minuten
er noch ertragen musste, bis dieser Tag endlich um war, sondern von etwas Lauerndem, Misstrauischem und Tückischem. Der Instinkt der Diebin, der sie warnte, dass hier irgendetwas schrecklich schiefging. Lena hatte gelernt, auf diesen Instinkt zu hören, einen Instinkt, der sie vermutlich schon ein paarmal genarrt, ihr aber schon ebenso oft den Hals gerettet hatte.
    Und zweifellos hätte sie auch diesmal auf die mahnende innere Stimme gehört, wäre nicht im gleichen Augenblick eine Haustür direkt neben dem Geldautomaten aufgegangen und der Russe herausgekommen.
    Lena hätte nicht sagen können, woher sie wusste, dass es ein Russe war, aber sie wusste nicht nur das, sondern mit vollkommener Sicherheit auch noch eine Menge mehr. Der Kerl war ein Riese, an die zwei Meter groß und vermutlich drei Zentner schwer - ohne ein einziges Gramm Fett. Vermutlich wohnte er in einer Muckibude - Maßanzug, Rolex und teure Klunker an acht von zehn Fingern und beiden Handgelenken. Ganz kurz sah sie einen rötlichen Schimmer aus dem Haus fallen,
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