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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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bevor dieser Boris die Tür hinter sich ins Schloss zog, und - möglicherweise - ein Stück weiblicher Haut, die nur von sehr wenig schwarzer Spitze verhüllt war. Während sie den Russen in der spiegelnden Fensterscheibe genau im Auge behielt, stellte sie sich die alberne Frage, ob es in dem getarnten Puff neben dem Aldi-Markt wohl auch ein Sonderangebot der Woche gab, aber dann machte ihr Herz einen regelrechten Satz, und sie konnte ihr Glück kaum fassen, als ihr klar wurde, dass der Kerl keinen der geparkten Wagen am Straßenrand ansteuerte, sondern den EC-Automaten.
    Gut, das war eine Beute, die sie ohne die geringsten Gewissensbisse ausnehmen konnte. Aufmerksam sah sie zu, wie dieser Igor die Karte in den Schlitz schob, den Automaten um zweihundert Euro in Fünfzigern erleichterte und die Brieftasche dann nachlässig in die Jackentasche stopfte, was fast schon
einer Einladung gleichkam. Nicht nur ein Zuhälter, sondern auch noch ein blöder Zuhälter. Dem Idioten tat es nicht nur nicht weh, wenn sie ihn ausnahm, es geschah ihm recht.
    Zwei Sekunden nachdem Iwan Iwanowitsch seine Brieftasche eingesteckt und den ersten Schritt gemacht hatte, war sie am Automaten, um das Smartphone zu holen. Das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht in Ordnung war, klopfte noch einmal bei ihr an, aber sie hatte jetzt einfach nicht mehr die Zeit, darüber nachzudenken.
    Vergiss die ganze Chose, flüsterte eine hartnäckige Stimme hinter ihrer Stirn. Hier stimmt doch was nicht! Hau ab!
    Statt auf sie zu hören, schwenkte sie mit einer raschen Bewegung herum, holte zu Stepan Stepanowitsch auf und schnitt ihm dann mit einem blitzschnellen Haken den Weg ab, während sie gleichzeitig den linken Arm hob, um einem nicht existenten Bekannten auf der anderen Straßenseite zu winken. Prompt prallte der Oleg so unsanft gegen sie, dass sie stolperte. Die Hand, die in seine Jackentasche glitt, um ihn um seine Brieftasche zu erleichtern, hätte er nicht einmal dann bemerkt, wenn sie sich weniger geschickt angestellt hätte.
    »He, verdammt!«, polterte sie los, während sie die geklaute Brieftasche unter der Jacke verschwinden ließ. »Pass doch auf!«
    Pjotr glotzte sie an, und Lena konnte regelrecht sehen, wie ihre Worte in sein Bewusstsein tröpfelten und den Teil erreichten, der darüber entschied, ob er nur verwirrt sein oder doch so wütend werden sollte, um auf den »Wut«-Knopf zu drücken; der groß und rot war und natürlich auf Kyrillisch beschriftet.
    Lena machte sich keine besonderen Sorgen, aber sie spürte trotzdem den bitteren Kupfergeschmack des Adrenalins, das in ihren Kreislauf schoss: Der bullige Kerl war ungefähr dreihundertmal so stark wie sie und konnte sie vermutlich mühelos mit zwei Fingern zu Mus quetschen. Aber Lena wusste auch, wie
schnell sie war, und seine Körpersprache war für sie wie ein offenes Buch, das nicht kyrillisch geschrieben war.
    Er würde mit der linken Hand nach ihr greifen und gleichzeitig einen Schritt nach rechts machen - schlau wie er nun mal war -, sollte sie erwartungsgemäß in diese Richtung ausweichen, und Lena bedauerte es fast, sein dummes Gesicht nicht sehen zu können, wenn sie einfach unter seiner Pranke wegtauchte und mit Warp sieben davonflitzte.
    Dann änderte sich Stanislawskis Gesichtsausdruck, und seine Augen wurden groß, während sich sein Blick auf einen Punkt hinter ihr richtete.
    Eigentlich hätte sie sich gar nicht mehr herumdrehen müssen, um zu begreifen, dass sie dieses Mal wirklich besser beraten gewesen wäre, auf ihre innere Stimme zu hören.
    Wenn es sie denn je gegeben hatte, so war ihre Glückssträhne jetzt zu Ende.
    Dass sie die Situation mit einem einzigen Blick im Bruchteil einer Sekunde erfasste, lag vermutlich daran, dass sie alles schon vorher wahrgenommen hatte; nur hatte sie es in ihrer Gier einfach nicht sehen wollen: den unauffälligen Zivilwagen, der ganz und gar nicht unauffällig neben ihr in zweiter Reihe parkte und damit einen schwarzen Jaguar blockierte, der vermutlich Iljitsch gehörte und aus dem genau in diesem Moment zwei Burschen ausstiegen, die die gleiche Muckibude besuchen mussten wie er; die beiden anderen Burschen, die bisher genauso gelangweilt wie sie vor dem Schaufenster herumgelungert hatten und mit einem Mal ganz und gar nicht mehr gelangweilt wirkten; und last but not least ein dicklicher Mittvierziger mit beginnender Glatze, der zu gut gekleidet war, um zum Fußvolk zu gehören, aber dennoch im Stechschritt auf Boris zuhielt.
    Und
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