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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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wusste, wie schnell und geschickt sie war, wenn es wirklich sein musste, aber dieser Sprung hätte nicht einmal ihr gelingen dürfen. Es musste wohl die sprichwörtliche Kraft der Verzweiflung gewesen sein, die ihr diesen unmöglichen Satz doch ermöglicht hatte.
    Lena gedachte allerdings nicht, dieses großzügige Geschenk des Schicksals auszuschlagen. Sie konnte sich später noch ausgiebig darüber wundern, wie sie dieses Kunststück fertiggebracht hatte.
    Hastig zog sie die Knie an den Leib, als der Blondschopf seine Überraschung endlich überwand und auf die naheliegende Idee kam, nach ihren Fesseln zu greifen, mobilisierte noch einmal all ihre Kräfte und streckte die linke Hand aus, um sich endgültig auf die Mauerkante hinaufzuziehen. Blondie fluchte, weil seine grapschenden Finger ins Leere stießen, und Lena zog sich rasch weiter nach oben. Auch mit der anderen Hand suchte sie nach einem sicherem Halt, schrie aber im nächsten Moment vor Schmerz auf, weil sie das Gefühl hatte, direkt in eine gespannte Bärenfalle gegriffen zu haben. Irgendetwas spießte ihre Hand auf, durchschlug sie ohne die geringste Mühe und schickte Strahlen aus reinem Feuer ihren Arm und die Schulter bis in den Schädel hinauf, wo sie in einer weißglühenden Lohe direkt zwischen ihren Schläfen explodierten. Jedenfalls fühlte es sich so an.
    Was sie sah, war nicht annähernd so dramatisch, aber schlimm genug: Irgendein Hirni hatte die gesamte Mauerkrone mit scharfzackigen Glasscherben gespickt - wahrscheinlich der paranoide Filialleiter, der Angst hatte, dass man ihm den Müll aus seinem Hof stahl -, und sie hatte selbstverständlich gezielt in eine dieser Scherben hineingegriffen. Ihre Hand war zwar nicht durchbohrt, aber es tat so ekelhaft weh, dass ihr die Tränen in die Augen schossen.

    Mindestens genauso wütend auf sich selbst wie auf den Vollidioten, der sich diesen Schwachsinn hatte einfallen lassen, ballte sie die Hand zur Faust. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung blinzelte sie die Tränen weg und starrte eine Sekunde lang beinahe verständnislos auf das sonderbar hellrote Blut, das aus ihrer geschlossenen Hand tropfte.
    Irgendetwas stimmte damit nicht, dachte sie verwirrt. Es war zu hell und zu dünnflüssig, und obwohl der Schmerz im ersten Moment eher noch schlimmer wurde, kam er ihr zugleich beinahe … angenehm vor.
    Nein. Angenehm war das falsche Wort. Das Gefühl war … unheimlich.
    Verwirrt starrte sie weiter ihre Hand an, und vielleicht hätte sie es auch noch länger getan, hätte es nicht plötzlich hinter ihr lautstark gescheppert.
    Der Blonde war zu ihrem Bedauern nicht dumm genug, ihr Kunststück nachmachen zu wollen und sich dabei vielleicht freundlicherweise den Fuß zu verstauchen, dafür aber erschreckend pragmatisch: Inmitten all des Chaos hatte er tatsächlich eine gelbe Plastikmülltonne entdeckt, die er jetzt mit einem Fußtritt gegen die Wand beförderte, und aus der gleichen Bewegung holte er Schwung; vermutlich um hier den Nijinski zu geben und mit einem einzigen Satz zu ihr heraufzuspringen. Der Bursche war hartnäckig, das musste sie ihm lassen.
    Und er würde sie kriegen, wenn sie noch lange hier herumhockte und seine Hartnäckigkeit und die Eleganz seiner Bewegungen bewunderte.
    Schnell, aber sorgsam darauf bedacht, sich nicht noch mehr an den Glasscherben zu verletzen, schwang sie sich vollends über die Mauer. Mit einer eleganten Rolle kam sie auf der anderen Seite wieder auf die Beine und hörte eine Mischung aus Schmerzensschrei und Fluch über sich. Offensichtlich war der Blondschopf doch nicht ganz so clever, wie sie geglaubt hatte.
Jetzt waren sie schon zu zweit, um ein Wörtchen mit dem Architekten dieser Todesfalle zu reden.
    Sie war in einem weiteren, an allen Seiten von Mauern umschlossenen Hinterhof herausgekommen, der allerdings weitaus größer (und aufgeräumter) war und vor allem einen Ausgang hatte: eine schmale, weit offen stehende Durchfahrt, hinter der die Straße auf der Rückseite des Häuserblocks zu sehen war. Noch ein paar Schritte, und sie hatte es geschafft. Sie war sich sicher, dass sie schnell genug rennen konnte, um dem Blondschopf zu entkommen.
    Der übrigens genau in diesem Moment mit einem erschreckend eleganten Satz hinter ihr von der Mauer sprang und kaum weniger schnell wieder auf den Beinen war als sie gerade.
    »Verdammt, Junge, bleib doch stehen!«, keuchte er. »Du machst es doch nur schlimmer, und wir kriegen dich sowieso!«
    Aber bestimmt nicht
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