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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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heute, dachte Lena, wirbelte auf dem Absatz herum und raste los, und statt weiter Unsinn zu reden, stieß der junge Bulle ein überraschtes Keuchen aus, als er offensichtlich zum ersten Mal begriff, wie schnell sie wirklich war.
    Lena hatte es nie ausprobiert, weil sie so etwas nun wirklich nicht interessierte, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie die hundert Meter unter acht Sekunden laufen konnte, und in einem Moment wie diesem wahrscheinlich sogar noch deutlich schneller. Sie würde ihren Vorsprung verdoppelt haben, noch bevor sie die Durchfahrt erreichte, und auf der anderen Seite hatte sie ihn vermutlich ganz abgehängt.
    Oder war tot, je nachdem.
    Der Lkw tauchte nicht nur wie aus dem Nichts am anderen Ende der Einfahrt auf, er füllte sie auch so perfekt aus, als wäre er zu keinem anderen Zweck konstruiert worden. Der Fahrer musste ein wahrer Meister seines Fachs sein, denn er jagte nahezu ungebremst in die Einfahrt hinein, obwohl auf beiden Seiten kaum noch Platz für den sprichwörtlichen Bierdeckel blieb.

    »Um Himmels willen, Junge - pass auf! «, schrie der Bulle hinter ihr. In seiner Stimme lag echte Panik, ein Gefühl, das dem ziemlich nahekam, was auch Lena in diesem Moment verspürte. Sie war zu schnell. Der Lkw sprang ihr regelrecht entgegen, ein riesiges weiß lackiertes Ungeheuer, das die schmale Durchfahrt ausfüllte wie ein Korken den Flaschenhals, zwanzig Tonnen Stahl, die alles zermalmen mussten, was sich ihnen in den Weg stellte; sie selbst eingeschlossen.
    Irgendetwas geschah mit der Zeit. Sie schien plötzlich anzuhalten und zugleich mit zehnfacher Schnelligkeit dahinzurasen, so dass sie alles mit übernatürlicher Klarheit wahrnahm, aber auch vollkommen außerstande war, irgendwie zu reagieren, so als hätte eine stärkere Macht die Kontrolle über ihre Handlungen übernommen, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Der Lkw raste weiter heran. Die Luftdruckbremsen zischten, als der Fahrer die schmale Gestalt in der schwarzen Kapuzenjacke auf sich zujagen sah und ebenso verzweifelt wie vergebens auf die Bremse trat, um den 20-Tonnen-Koloss doch noch zum Stehen zu bringen, ein Laut wie das Fauchen eines wütenden Drachen. Hinter ihr schrie der junge Bulle so gellend auf, als wäre er es, der im nächsten Moment überrollt werden musste, und sie konnte den Ausdruck von blankem Entsetzen im Gesicht des Fahrers hinter der verdreckten Scheibe des Führerhauses erkennen. Etwas in ihr krampfte sich in Erwartung des Aufpralls zusammen. Sie fragte sich, ob es wehtun würde, aber seltsamerweise hatte sie überhaupt keine Angst.
    Statt vom verchromten Kühlergrill des Monster-Trucks zerschmettert zu werden, tat Lena etwas ganz und gar Unglaubliches: Kaum fester als ein fallendes Blatt berührte ihr linker Fuß die bullige Stoßstange und katapultierte sie in die Höhe, Finger- und Zehenspitzen fanden Halt im gerippten Chrom des Kühlergrills, den Scheibenwischern und dem getönten Plastik des Sonnenschutzes, dann war sie an der Fahrerkabine hinauf
und schlitterte durch den schmalen Spalt zwischen dem Dach und der gemauerten Decke der Toreinfahrt. Es reichte nicht. Es konnte nicht reichen. Die Lücke war kaum fünf Zentimeter hoch, wenn nicht weniger. Sie würde einfach zerquetscht werden, zu roter Schmiere auf dem Wagendach und unter der Decke verteilt.
    Stattdessen glitt sie lautlos und so schnell wie ein Schatten über das Dach, turnte mit völlig unmöglicher Geschicklichkeit über den Auflieger und die überdimensionale Stoßstange am Heck des Sattelzuges und kam so leichtfüßig und elegant wie eine Ballerina am Ende eines harmlosen Übungshüpfers auf dem Bürgersteig auf. Funken sprühten. Aus dem Zischen und Wispern in ihren Ohren wurde jäh das gepeinigte Kreischen von Metall, und der Lkw kam mit einem so harten Ruck kaum einen halben Meter hinter ihr zum Stehen, als wäre er gegen eine Mauer geprallt. Jemand schrie, und nicht besonders weit entfernt begann schon wieder eine Sirene zu wimmern.
    Lena rannte los.

2
    Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgend. Etwas. Stimmte. Hier. Ganz. Und. Gar. Nicht.
    Lena machte auf dem Absatz kehrt und hielt auf einen auffallend lackierten Motorroller zu, bei dem einladend der Schlüssel steckte, als sie den blau-silbernen Streifenwagen sah, der die Straße auf ganzer Breite blockierte und gleich einen doppelten Stau produzierte: einen Mob wütender Autofahrer, die nach Kräften ihre Hupen ausprobierten, auf der einen und eine kaum weniger laute (und
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