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Wir sind die Nacht

Wir sind die Nacht

Titel: Wir sind die Nacht
Autoren: Hohlbein Wolfgang
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links, um einem weiteren Hindernis auszuweichen, das sie regelrecht anzuspringen schien, und stürmte fast blind weiter. Das Lager war nicht nur so vollgestopft und unordentlich, dass es sie an eine Art Hauptquartier der europäischen Messie-Vereinigung erinnerte, sondern auch dunkel. Unter der Decke brannten nur ein paar trübe Energiesparbirnen, und es gab kein Fenster. Außerdem roch es schlecht.
    Lena hörte, wie die Plastiktür hinter ihr aufgestoßen wurde, dann ertönte ein lautstarker Fluch und ein länger anhaltendes Poltern und Scheppern. Sie stolperte im Halbdunkel schnell weiter und sah endlich den Notausgang, nach dem sie gesucht
hatte. Das vom Gesetz vorgeschriebene Hinweisschild darüber brannte nicht, und Lena schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Leiter dieser Filiale nicht genauso paranoid wie geizig war und den Notausgang aus Angst vor diebischen Angestellten abgeschlossen hatte. Wenn, dann war sie erledigt. Lena glaubte nicht, dass die beiden Bullen sonderlich viel Verständnis für die Art aufbrachten, auf die sie ihre freundliche Einladung ausgeschlagen hatte.
    Wie um ihren Befürchtungen neue Nahrung zu geben, nahm das Poltern und Rumoren hinter ihr noch einmal zu, und eine aufgebrachte Stimme rief irgendetwas, was sie im Moment nicht zu verstehen vorzog. Mit einem Satz erreichte sie den Ausgang und hätte vor Erleichterung am liebsten laut aufgeschrien. Die breite Klinke gab unter ihrem Griff nach, die Tür schwang auf, sie stürmte hindurch - und fand sich auf einem winzigen, an drei Seiten von zweieinhalb Metern hohen Mauern umgebenen Hof wieder.
    Diesmal schrie sie wirklich laut auf - vor Enttäuschung und Frust.
    Sie war einer Falle entkommen, nur um in die nächste zu tappen. Es gab keine Tür, keinen zweiten Ausgang, sondern nur den Notausgang hinter ihrem Rücken und eine Reihe vergitterter schmaler Fenster, die in unerreichbaren vier Metern Höhe über ihr lagen. Blondschopf und sein schmerbäuchiger Kollege brauchten sie nur noch einzusammeln.
    Hinter ihr wurde das zornige Gebrüll noch lauter. Rasche Schritte näherten sich. Als sie die schwere Metalltür hinter sich ins Schloss warf, gab es einen dumpfen Knall; vielleicht eine oder zwei Sekunden zu früh, wie ihr der für Logik und das Verpissen zuständige Teil ihres Verstandes klarmachte. Hätte sie den richtigen Moment abgepasst und dem Blondschopf die Tür ins Gesicht geknallt, dann wäre er erst einmal mit ganz anderen Dingen beschäftigt gewesen als damit, sie zu verfolgen …

    Aber seltsamerweise wollte sie das gar nicht.
    Die Behörden - und allen voran die Polizei - waren so etwas wie ihr natürlicher Feind, solange sie denken konnte, aber irgendetwas … war an diesem jungen Polizisten. Sie wollte ihm nicht wehtun.
    Was natürlich nichts daran änderte, dass sie es, ohne zu zögern, tun würde, wenn er sie dazu zwang.
    Lena schüttelte den Gedanken ab, sah sich noch einmal gehetzt auf dem winzigen Hof um - er maß kaum zehn Schritte in jede Richtung und war womöglich noch unordentlicher als das Lager, vollgestopft mit leeren Kartons, Verpackungen, Paletten und Plastikmüll - und erwog in dem kurzen Moment, den diese Bewegung brauchte, ein halbes Dutzend Ideen, von denen eine verrückter war als die andere: Sie konnte ihre Beute einfach wegwerfen und darauf hoffen, dass die Bullen sie in all dem Chaos nicht fanden (was lächerlich war), damit sie einfach die ebenso Ahnungslose wie Unschuldige spielen konnte; sie konnte sich irgendwo unter all dem Gerümpel und Müll verstecken und darauf hoffen, dass der Blondschopf sie nicht fand (was noch lächerlicher war); oder sie wartete, bis er hinter ihr durch die Tür gerannt kam, stellte ihm ein Bein und versuchte in umgekehrter Richtung durch den Laden zu fliehen - was vielleicht die lächerlichste aller Ideen war.
    Aber es gab noch einen Ausweg, der zwar so verrückt war, dass sie den Gedanken nicht einmal in Betracht gezogen hätte, den ein anderer Teil von ihr jedoch einfach tat: Während die Tür hinter ihr aufflog und ein nun wirklich sehr zorniges Gebrüll laut wurde, spurtete sie los, stieß sich mit aller Kraft ab und sprang mit weit ausgestreckten Armen an der Wand hoch; zweieinhalb Meter glatt verputzter Beton, an dem nicht einmal eine Fliege Halt gefunden hätte.
    Anders als ihr Verfolger schrie Lena zwar nicht vor Überraschung und Unglauben auf, als ihre Hände an der Mauerkante
sicheren Halt fanden, aber sie war mindestens genauso erstaunt wie er. Sie
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