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Der Fliegende Holländer

Der Fliegende Holländer

Titel: Der Fliegende Holländer
Autoren: Tom Holt
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1. KAPITEL
     
    Es ist immer ein wenig erschreckend, wenn man irgendwo unverhofft seinen Namen hört, und so erstarrte auch Vanderdecker – im Gegensatz zum Bier in seinem Glas, dessen Schaum ihm an die Nase spritzte. Schließlich stellte er das Glas ab und hörte genauer hin.
    »Die Geschichte vom Fliegenden Holländer …«, hatte der Mann am Nebentisch eben gesagt. Langsam, um nicht beim Hinsehen ertappt zu werden, drehte sich Vanderdecker zur Seite. Durch seinen Beruf war er darin geschult, sämtliche Informationen, die man für ein vorläufiges Urteil benötigte, mit schnellem Blick zu erfassen. Was er sah, war ein rundlicher junger Mann, der eine Kordjacke und ein rosafarbenes Hemd mit weißem Kragen trug. Die Hose etwas zu eng. Nickelbrille mit runden Gläsern. Amerikaner. Er unterhielt sich mit einem wenigstens sieben Jahre jüngeren Mädchen. Zwar war Vanderdecker von dem Anblick, der sich ihm bot, nicht sonderlich angetan, hörte aber dennoch weiter zu.
    »Die meisten Leute denken, daß Wagner die Geschichte vom Fliegenden Holländer erfunden hat«, fuhr der rundliche junge Mann fort, »aber das ist falsch.«
    »Ach, wirklich?« fragte das Mädchen.
    »Absolut falsch«, versicherte ihr der rundliche junge Mann. »Die Legende kann bis ins frühe siebzehnte Jahrhundert zurückverfolgt werden. Meine Theorie ist, daß sie auf irgendeiner Fehlinterpretation beruht, was mit dem Auftauchen der holländischen Flotte auf dem Medway zusammenhängt.«
    »Wo genau liegt eigentlich der Medway?« fragte das Mädchen, aber der rundliche junge Mann hatte ihr gar nicht zugehört. Als wäre sie ein Geist, sah er durch sie hindurch und erblickte dahinter das weit entfernte, aber unwiderstehliche Trugbild seiner eigenen Klugheit.
    Vanderdecker wußte genau, wo der Medway lag, und runzelte die Stirn. Es gefiel ihm nicht, wenn man von ihm bereits zu seinen Lebzeiten als Legende sprach. Aber der rundliche junge Mann war noch nicht fertig.
    »Die Version, die Wagner benutzt – ich sage benutzt, aber selbstverständlich hat der Meister sie für seine Zwecke zurechtgestutzt –, erzählt von einem holländischen Kapitän, der, ungeachtet der Gefahren eines furchtbaren Sturms, versucht, das Kap der Guten Hoffnung zu umsegeln, und schwört, dieses Kunststück zu schaffen, selbst wenn er bis in alle Ewigkeit dazu brauchen würde.«
    »Ach, was Sie nicht sagen …«, warf das Mädchen mit vorgetäuschter Neugier ein.
    »Kaum ist ihm dieser schicksalhafte Schwur über die Lippen gekommen«, fuhr der junge Mann fort, »da erfährt Satan von dem Gelübde und verdammt diesen elenden Frevler, bis zum Jüngsten Tag auf den Meeren zu segeln, ohne Ziel und ohne Hoffnung auf Erlösung, bis er eine Frau findet, die ihm treu ist bis zum Tod. Alle sieben Jahre erlaubt ihm der Teufel, einmal an Land zu gehen, um nach einer derartigen Frau zu suchen; und bei solch einer Gelegenheit …«
    »Ich hab immer gedacht, der Fliegende Holländer ist ein Buch oder ein Film«, unterbrach ihn das Mädchen.
    Diese Worte wirkten sich auf den rundlichen jungen Mann so schlagartig aus wie Zucker auf einen vollen Benzintank. Er hörte auf zu reden, bat aber gleich darauf um etwas, das Vanderdecker ihm liebend gern abgeschlagen hätte.
    »Verzeihung?« stammelte er.
    »Oder verwechsle ich das mit dem fliegenden Klassenzimmer?« korrigierte sich das Mädchen, dem klar wurde, daß der Witz einer Erklärung bedurfte, bevor ein Amerikaner ihn verstehen konnte. Bei der Wirkung, die sie erzielte, hätte sie allerdings ebensogut Lettisch sprechen können, und nach einem Moment der Verwirrung legte der rundliche junge Mann unverdrossen mit Details über die Daland-Senta-Handlung aus Wagners Oper los. An diesem Punkt konzentrierte sich Vanderdecker wieder auf das Bierglas, denn er konnte diese Geschichte einfach nicht mehr hören. Als die Oper damals uraufgeführt worden war, hatte er ernsthaft in Erwägung gezogen, eine Klage einzureichen, aber die Schwierigkeiten, seine Identität zu beweisen, wären unüberwindlich gewesen.
    Obwohl nicht einmal Vanderdecker etwas davon wußte, war dieser rundliche junge Mann durch einen merkwürdigen Zufall sein Urururururururenkel; das Endprodukt eines evolutionären Prozesses, der mit einem flüchtigen Abenteuer zwischen ihm und einer Bardame 1674 in Neuengland begonnen hatte. Und es gab Beweise, falls diese überhaupt notwendig waren, daß sich die Version von der Geschichte, die Junior gerade zum besten gegeben hatte, aus einem
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