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Der Fliegende Holländer

Der Fliegende Holländer

Titel: Der Fliegende Holländer
Autoren: Tom Holt
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nicht ganz so abscheulich wie die überall herumhängenden Reklameposter war, und las zum wiederholten Male die Zusammenfassung der Handlung durch. Eine moderne Version der Geschichte, bei der der Holländer dazu verdammt war, den Rest seines Lebens in der Ring-U-Bahn der Londoner City herumzukreisen, und als Lesematerial lediglich die miserable Werbung von Zeitarbeitsfirmen zur Verfügung hatte, wäre ihres Erachtens ausbaufähig gewesen, aber im großen und ganzen hielt sie ihren Einfall für eher dämlich als tragisch. Der abwegigste Teil an dieser Idee war ihrer Meinung nach, daß einen der Teufel holen konnte, nur weil man sich entschlossen hatte, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, um den täglichen Staus in der Stadt zu entgehen. Sollte diese von ihr aufgestellte Regel allerdings tatsächlich Geltung haben, sagte sie sich, dann könnte man sich bald vor lauter aus der U-Bahn flüchtenden Seelen nicht einmal mehr in den Kreisverkehr von Chiswick einfädeln. Aber vielleicht war ja wirklich etwas daran, das würde zumindest den Fahrstil einiger Leute erklären.
    Die U-Bahn hielt in Paddington, und erst als der Zug völlig zum Stillstand gekommen war, öffneten sich automatisch die Türen. In einer Ecke des Waggons saß ein Stadtstreicher mit zerzaustem weißen Haar. Er trug furchtbar zerschlissene Schuhe und schlief fest, wobei ihm der Kopf fast zwischen den Knien baumelte. Ansonsten war das Mädchen allein. Sie ließ die Sage vom Fliegenden Holländer auf sich beruhen und wandte ihre Gedanken den Irrungen und Wirrungen des Daseins an sich zu und welche Rolle sie im Leben eigentlich zu spielen gedachte. Ich bin eine Finanzbuchhalterin, sagte sie sich, die sich in erster Linie um die Belange von Banken kümmert. Wie kann es angehen, daß ich jedesmal laut schreien möchte, sobald mir diese Tatsache wieder einmal bewußt wird?
    Vielleicht war die Geschichte vom Fliegenden Holländer ja gar nicht so blöd. Vielleicht schwebte Satan unsichtbar und sprungbereit irgendwo in der Luft und wartete nur darauf, sich auf unbedachte Äußerungen zu stürzen. Sie hatte in ihrem Leben nur ein einziges Mal etwas äußerst Dummes gesagt – nämlich ›Ich will Buchhalterin werden‹ –, aber unter den verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten ihres gegenwärtigen seelischen Zustands, über den sie sich nicht erst seit heute Gedanken machte, war die Satanstheorie so gut wie jede andere. Gab es überhaupt so etwas wie einen Teufel? Warum eigentlich nicht? Satan konnte man sich durchaus als Leibhaftigen vorstellen, wenn man Mr. Peters kannte, einen der Seniorpartner – und dessen Existenz stand außer Frage. Um sich den Gentleman mit den Hörnern vorzustellen, mußte man ihm lediglich diese muffigen mittelalterlichen Klamotten ausziehen, ihn in einen dreiteiligen Anzug stecken und das Höllenfeuer in einen Mikrowellenherd verwandeln. Dafür könnte man im Rahmen einer Opernhandlung vielleicht sogar staatliche Fördermittel erhalten.
    Das Mädchen merkte, daß seine Gedankengänge allmählich bedrohlich ins Metaphysische abdrifteten, aber wenn man um Viertel vor zwölf ohne Lesestoff im Bahnhof von Paddington feststeckt, kann man es sich leisten, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Plato hätte die Bakerloo-U-Bahn-Linie zu schätzen gewußt.
    Ich bin zwar keine fliegende Holländerin, sagte sie sich, aber mir gefiele es bestimmt nicht, ewig zu leben. Sie erinnerte sich an eine ganz bestimmte Woche mitten in den Sommerferien, als sie noch Kind war. Jene unvermeidbare Woche, als die Freude, der Schule entronnen zu sein, bereits verpufft war, und die Furcht, demnächst wieder hin zu müssen, noch keinen Einfluß ausübte. In dieser Woche, in der alle anderen mit ihren Eltern auf Jersey waren, Kusine Marian aus Swansea zu Besuch kam und im Fernsehen ausschließlich Live-Übertragungen aus Wimbledon liefen, gab es nichts mehr zu erledigen. Jene Woche, die frei von jedem Druck war, Dinge tun zu müssen, die man haßte, die aber auch keinerlei Vergnügungen bot, denen man nur zu gern nachgekommen wäre – jene Woche, die wenigstens einen Monat, wenn nicht länger dauerte. Kein noch so schlimmes Verbrechen, zu dem sich ein menschliches Wesen hinreißen lassen könnte, verdiente eine solch grausame Bestrafung wie eine dieser Wochen, in denen man nichts anderes zu tun hatte, als die Zeit totzuschlagen. Vielleicht sollte sie lieber aufhören, in diese Richtung weiterzudenken, bevor sie noch genauer herausfände, auf welch
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