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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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der Nagl über seinen Schuh schleckte. Nagl war darüber gerührt, er wußte nicht warum und drehte sich nach dem Hund um, der schnüffelnd weiterlief. Vor einem schmutzigen Cafe stand eine schwangere Frau, hielt ihre Hand auf den Bauch und fühlte nach Bewegungen ihres Kindes. Als sie bemerkte, daß Nagl sie beobachtete, hörte sie verlegen auf und verschwand im Cafe. Er ging durch das dunkle, enge Haus. Der Mann mit der Glatze öffnete ihm und führte ihn in das Zimmer, in dem ein Spiegel mit einem silbergestrichenen Gipsrahmen über einem Kamin hing. Nagl stellte den Koffer ab, ging ins Nebenzimmer und öffnete das Fenster zur »Appia«. Als der Mann gegangen war, legte er sich auf ein Sofa mit einer schmierigen Kopfrolle und konnte so den Himmel, den Schornstein und ein Stück der Reling des Schiffes sehen. Er schlief kurz ein und erwachte eine halbe Stunde später. Er fühlte das Stilett in seiner Sakkotasche, holte es heraus und ließ es einige Zeit aufspringen und wieder zuklappen. Vielleicht würde er nach Istanbul fliegen. Dann dachte er, daß es am besten wäre, irgendwohin zu fahren, wo er sich nichts erhoffte. Er ließ den Koffer im Nebenzimmer stehen und ging wieder auf die Straße.
62
    Von einem Gondoliere ließ er sich zum Bahnhof fahren. Ein stummer Alter mit heraushängender Zunge half ihm in das Boot, das der Gondoliere mit blauen Lederpolstern belegte. Die Gondel war innen grün, zwei schöne breite Sessel mit Lehnen befanden sich in ihr und zwei Bänke. Der Stumme mit der heraushängenden Zunge hielt, kaum daß er Nagl ins Boot geholfen hatte, seine Kappe auf, und der Gondoliere wartete, bis Nagl Geld hineingeworfen hatte. Sie fuhren durch stinkende Nebenkanäle, zwischen Müllbooten, Lastenkähnen, die vorsichtig um die Ecken bogen. Dann glitten sie unter eine schattige Brücke und hörten aus einem offenen Fenster das Gezwitscher und Trillern von Kanarienvögeln. Nagl dachte an Annas Vogelzunge, ihr Kindergesicht und ihre Nähe und, während er litt, zwang er sich, alles zu sehen. Ein Postbote legte Briefe in einen Korb, der von einem Haus hinuntergelassen wurde, und eine Frau zog den Korb hinauf. In einem stillen, grünen Kanal fuhren sie an einer Schule vorbei, aus der das laute Gekreisch von Pausenlärm klang. Sie bogen zum Canale ab, und Nagl saß klein im Wasser und blickte zu einem Palazzo auf, zu den Spitzbogenfenstern und Steinbaikonen. Zwei alte Frauen standen hinter den Markthallen mit schwarzen Schals auf dem Kopf und schwarzen Mänteln, Strümpfen, Schuhen und Spazierstöcken. Die Gondel fuhr so nahe an ihnen vorbei, daß Nagl sah, wie eine von ihnen eine Muschel öffnete und sie in ihren zahnlosen Mund stopfte. Vor dem Hotel »Principe« mit den schwarzrot geflammten Pfählen mußte der Gondoliere anhalten und Luft holen. Die Vorhänge des Hotels waren zugezogen und die hohen Türen geschlossen.
     
    Am Anlegeplatz vor dem Bahnhof lag auf einer Holztreppe ein toter Polyp mit goldenen Augen. Nagl hatte bezahlt und stieg über das Tier. Er streifte im Bahnhof herum, erkundigte sich nach einem Zug, der nach Istanbul fuhr, ging zum Bahnsteig, von dem Anna abgefahren war, und beeilte sich dann, den Bahnhof wieder zu verlassen. Er ging durch enge, labyrinthartige Gassen, kam zu einem winzigen Geschäft und sah einer alten Frau zu, die Schirme reparierte: Die Schirme lagen in Regalen bis zur Decke, und die Frau arbeitete an einem alten Exemplar mit einem feinen Muster aus winzigen, roten Rosen auf schwarzem Grund, darunter befand sich ein dunkelblauer mit weißen Tupfen.
    Er war seit zehn Tagen nicht mehr rasiert und sein Haar war noch immer fett und ungewaschen und zu Strähnen verklebt. In einer Bar trank er ein Glas Rotwein und aß zwei kalte Tintenfische mit Zitrone. Ein Italiener mit einem Schnurrbärtchen fragte ihn, ob er »Inglese« sei. Er bezahlte ein Glas Wein für ihn, und Nagl verließ beschämt die Bar, nachdem er das Glas rasch ausgetrunken hatte. Er fand sich vor einer Apotheke mit Eisblumenscheiben, über denen ein goldener Männerkopf mit grünem Lorbeerkranz hing. Es war eine schöne Apotheke mit einem schmiedeeisernen, verschnörkelten Schild, auf dem der Name des Besitzers stand. Aus einem blumengeschmückten Fenster hörte er eine Frauenstimme Kolloraturen singen. Er ging in die Richtung, in der er den Kanal vermutete, kam an einem Fleischerladen vorbei und erreichte die Anlegestelle der Chiesa Simon. Während er auf ein Vaporetto wartete, betrachtete er die vielen
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