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Der gleiche Weg an jedem Tag

Der gleiche Weg an jedem Tag

Titel: Der gleiche Weg an jedem Tag
Autoren: Gabriela Adamesteanu
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Kapitel I
    E inige Jahre schliefen wir zu dritt in einem Zimmer, Mutter, Onkel Ion und ich, von dem Herbsttag an, wenn zum ersten Mal Feuer gemacht wurde, bis zum Ende des Frühlings, im Mai. Zu jener Zeit habe ich düster gedacht, mir würde nie etwas Besonderes passieren, und an diesem Gedanken habe ich mich festgehalten bis zu jener Nacht, als der Pförtner des Heims in unser Zimmer tritt, sich zwischen den fünf Betten hindurchtastet, das Licht einschaltet und sagt: »Wer von euch ist LetiÅ£ia Branea? Da hat jemand angerufen, sie soll sofort nach Hause fahren …«
    Zum ersten Mal sehe ich Unsicherheit in seinen Augen, und unter den erleichterten und teilnehmenden Blicken der Mädchen löse ich mich von mir selbst und schlüpfe in die mir zugedachte Rolle, mit der Ahnung oder dem Anfang eines Schmerzes, dem ich beim Wachsen zuschaue und den zu tragen ich bereit bin, so wie ich es gelesen und im Kino gesehen habe.
    Manchmal allerdings blieb ich in dem Zimmer allein, Mutter war auf der Arbeit und Onkel Ion hatte Unterricht. Er ging früh aus dem Haus, denn es war weit bis zur Schule, er musste eine gute Strecke des Wegs zu Fuß gehen und kam mit seinem kranken Bein nur langsam voran. Wenn ich erwachte, wärmte die Sonne den Staub auf den eng zusammengerückten Möbeln. Dann betrachtete ich schon mal durchs Fenster die Farbe der jeweiligen Jahreszeit auf den Hügeln hinter der Stadt und, in den sehr klaren Morgenstunden des Frühlings, die rosafarbenen Umrisse der fernen Gebirge, flüchtig und unwirklich wie Zirruswolken, die sich in der herrischen Wärme des Mittags auflösten. Ich stieg dann auf die unverputzte Brüstung des Balkons und hielt Ausschau; wenn ich die Hand ausstreckte, berührte ich die schwarzen Zweige des Birnbaums, die plötzlich biegsam waren von den unsichtbar steigenden Säften, und das weiße Licht überflutete mich mit der unerklärlichen Freude eines Neuanfangs. Dort in den Hügeln mit den schütteren blauen Wäldchen endete die Stadt, geteilt durch den Boulevard, der von allsommerlich zu Kugeln zurechtgestutzten Robinien gesäumt war, mit staubigen Gassen, die steil zu dem steinigen Flussbett abfielen, mit Häusern, von deren Mauern und Balkonen der Putz blätterte, mit langgestreckten Innenhöfen, die sich vier, fünf, sechs Familien teilten, und der Kaserne, aus deren Kellerfenstern mir die Soldaten hinterherpfiffen, mit der komplizierten Äderung der unter den Schritten gesprungenen Decke der Bürgersteige, dem Korso und den beiden Lyzeen – also mit all dem, das ich zu kennen meinte und mit dem mein Körper in matter Vertraulichkeit umging.
    Ich vergeudete diese schwebenden Stunden des Alleinseins, indem ich mich unschlüssig und doch bewusst allem entzog. Im Summen des Zählers im Vorzimmer hörte ich die Zeit, in der jederzeit alles Mögliche beginnen konnte. Ich vergaß mich lesend im Bett, stand erst spät auf und trat dann in den engen Raum zwischen der Bibliothek des Onkels und der Anrichte. Stets von neuem holte ich mir beim Gang durch diesen Engpass, den der Onkel Thermopylen nannte, blaue Flecke an den Beinen. Wenn ich den Schrank öffnete, kamen mir die Kleider entgegen, sie verströmten Staub und den Gestank von Mottenpulver. So viele ich umfassen konnte, schleppte ich vor den Spiegel und zog sie der Reihe nach an, dazu lächelte ich oder versuchte, eine schmachtende Miene aufzusetzen, wobei ich mich ganz aufs Gesicht konzentrierte wie bei einer Großaufnahme im Kino. Ein paar zerknitterte Kleider aus geblümter Naturseide, andere aus dünnem Stoff mit eckigen Schulterpolstern und besticktem Kragen, Hüte aus weichem Samt mit schiefer Krempe und Gummiband im Nacken. Ich fragte mich, wann Mutter sie getragen haben mochte, ich kannte sie nur mit dem großkarierten Herrenschal, der von Vater geblieben war und der sich ihrem Kopf nie anschmiegte, sondern über ihrer immer grauer werdenden Dauerwelle starre Falten warf.
    An Vater erinnerte ich mich nicht, wusste aber, dass ich ihn nie hätte vergessen dürfen. Deshalb vermied ich es, an ihn zu denken, und hoffte, dass ich irgendwann zur rechten Zeit alles begreifen und ausreichend leiden würde, mehr noch als Mutter. Dafür erinnerte ich mich an ein anderes, großes Zimmer voller fremder Menschen, in dem alle Lichter brennen, fremde Herren mit Hüten grölen, während Mutter weint und schreit.
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