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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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schwarzen Balkendecken mit Blumengirlanden, den abgewetzten, kardinalroten Samtsesseln mit goldenen Blattornamenten, den bleigerahmten, durchsichtigen Butzenscheiben, den Wänden aus tabakbraunem und vergoldetem Holz, den Tintorettos und Veroneses an den Decken, mit dem großen Guckloch an einer Tür, den grünen, goldenen und blauen Wanduhren, den riesigen goldenen, an den Wänden befestigten Kerzenleuchtern, den Bänken mit den unterteilten Sitzen und Armlehnen, den nach altem Holz riechenden Sälen vorbei bis zu einem Balkon, von dem aus er auf das glitzernde Meer und San Giorgio Maggiore und La Giudecca sah. Es war ein schöner, weiter Blick, als hätte ein Mensch diesen Balkon gebaut, um alle Kräfte zu sammeln und von hier aus in das Universum zu fliegen. Er dachte an die beiden großen Weltkugeln und an die Schiffe am Zattere und an die Fahrt mit der Eisenbahn. Als er wenig später in die Gefängnisse – niedrige mit doppelten Eisengittern abgesicherte Zellen – gekrochen war und den Stein unter den Gittern gesehen hatte, der blankgescheuert war wie Elfenbein und in den die Namen und Gesichter der Häftlinge: Pirico Camillo und Francesco Sforsa, geritzt waren, als er die eisernen Ringe an den Wänden sah und die Daten las, spürte er wieder Verlassenheit und Einsamkeit. In der Schatzkammer der Markuskirche leuchteten die goldgerahmten Mosaike und unter der goldenen Kuppel des Domes schimmerte das Licht, wie um ihn zu trösten, und Nagl ging benommen hoch über den Köpfen der Menschen auf gewundenen Steingängen, sah unter einem Glasdach die Mosaike über den Toren leuchten und trat auf einen Balkon, von dem aus er die Tauben wie Ameisen über die Ornamente des Steinbodens auf dem Markusplatz laufen sah und die Menschen klein waren wie Liliputaner.
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    In der Calle delle Veste fand er das Haus und das Namensschild, aber er läutete nicht an. Gegenüber dem Haus befand sich eine Latteria, in der Nagl eine ältere Frau mit verrutschten Strümpfen sah. Sie trug in der einen Hand ein Einkaufsnetz, in der anderen hielt sie ein Taschentuch. Während sie in dem überfüllten, kleinen Geschäft warten mußte, fächelte sie mit dem Taschentuch vor ihrer Nase. Nagl überlegte anzuläuten, dann streunte er zur Rialto-Brücke, fand eine Bar und trank Grappa. Der Barkeeper war nicht sehr gesprächig, er schenkte Nagl stumm ein Glas ein und rechnete auf Papieren eine Bilanz aus. Da er eine Unterhaltung schuldig zu sein glaubte, stellte er das Radio an. Nagl fühlte, wie er betrunken wurde. Der Himmel über dem Markusplatz war jetzt purpurrot, das Wasser fast schwarz. Nagl ging in die Kälte hinaus und war glücklich. Die Sonne war eine rotgoldene Scheibe, die rasch hinter den Palazzi unterging. Das Purpur hinter den Häusern versickerte im Meer und zog einen Strom fasriger roter Wolken nach sich. Dort, wo Nagl den Campanile vermutete, leuchtete im untergehenden Sonnenlicht die Figur eines goldenen Engels auf, er war klein und hell, während der Himmel violett wurde und sich von den Häusern weg ins Grüne verfärbte. Der Engel leuchtete übernatürlich hell, und der Himmel ging in Weißblau über und verwandelte sich langsam ins Nachtdunkle. Vom Vaporetto aus sah Nagl das letzte Stück des Himmels tief violett, das immer mehr vom Schwarz der Nacht gedeckt wurde. Aber der angestrahlte Engel leuchtete immer heller und deutlicher. Sie fuhren auf ihn zu, und Nagl dachte: Endlich ist es wie im Leben und nicht wie im Traum.
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    Er stieg vor der Accademia-Brücke aus. Was hatte er Luisa erzählt?
    Die Gletscher hatten über das Meer geschimmert, die Eisberge, die Schneewüsten. In seinem Zimmer stand der Koffer.
    Schneestürme tobten dort, wo die Sonne unterging. Und trotzdem schien ihm, als erwarte ihn diese Kälte.
    Er ging den Zattere hinauf. Ein alter Mann, umgeben von Katzen saß auf einer Steinbank. Die Katzen umstrichen seine Füße, wetzten sich an seinem Spazierstock, schmeichelten sich von hinten an ihn heran, durch seinen Arm, auf seinen Schoß. Nagl blieb stehen und sah ihm zu. Der Mann hatte ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket. Er schien auf etwas zu warten, blickte auf die Uhr, stand auf, beugte sich vor. Es waren schmutzige Straßenkatzen, die ihn umstrichen, den Kopf unter seinen Spazierstockgriff steckten und sich an ihm rieben. Aus einer Nebengasse kam eine Frau mit Plastiksäcken. Sie breitete Zeitungspapier aus und fütterte die Katzen mit Fischresten. Der Alte übergab sein Paket sorgsam der Frau, war
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