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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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fährst, bleibe ich«, sagte Anna und umarmte ihn. Sie riß das Fenster hinunter und beugte sich heraus. Er wollte sagen, daß er wiederkomme, aber der Zug setzte sich in Bewegung. Er sah Anna winken und blieb stehen, bis er die Eisenbahn nicht mehr sah.
60
    Im Hotel fragte ihn der Portier, ob er sein Zimmer gegen ein Einbettzimmer tauschen wollte, aber Nagl sagte, daß die Signora wiederkomme. Ah, die Signora komme wieder, sagte der Portier. Er erkundigte sich nach einer Bank, in der er alle Schecks einlöste.
    Die engen Gassen waren von der Sonne so beschienen, daß die feuchten Steinplatten blendeten und das Licht in den Haaren der Menschen leuchtete. Im Schatten jedoch war es kalt. Er vermißte Anna. Das Wasser in den Kanälen war blattgrün, aber dort, wo es gegen das Sonnenlicht auslief, schimmerte es silbrig. Eine Frau putzte eine Auslagenscheibe mit quietschenden Geräuschen. Nagl lenkte jetzt seine Aufmerksamkeit ganz auf das Äußere. Er nahm ein Vaporetto und fuhr zur Accademia. Auf den großen Traghettos überquerten Fußgänger stehend im schmalen Boot den Kanal. Nagl fror. Er schaute nach vorne, an der Biegung zur Accademia-Brücke war das Wasser so hell, daß er nur aus den Augenwinkeln hinsehen konnte. Er spürte plötzlich körperlich, daß Anna nicht neben ihm war, und ein Würgen stieg in seine Kehle.
    Langsam ging er durch die Accademia, an den altargoldenen Bildern Lorenzo Venezianos und Nicolo di Pietros vorbei, verirrte sich im Gebäude und fand sich plötzlich vor dem Eingang wieder. Im Grunde war es ihm recht. Er sah zu, wie eine Frau in einem Pelzmantel mit ihrem Knaben stehenblieb, die Pluderhose hinaufschob, den Zipp der hochhackigen Stiefel öffnete, etwas zurechtzupfte und mit dem Fuß wieder hinein fuhr. Der Anblick hatte etwas Intimes für ihn. Er dachte daran, wie er mit Anna geschlafen hatte, und spürte seine Verlassenheit so sehr, daß er den Wunsch hatte, mit irgendeinem Menschen zusammen zu sein. Nach einer Weile kam er ans Meer, an den Zattere al Ponte Lungo, an dem drei große Dampfer vor Anker lagen. Es drängte ihn, den Kai mit den laublosen Bäumen hinaufzuspazieren und die Namen der Schiffe zu lesen. Ein weißbrauner Dampfer hieß » Appia«. Riesige Taue führten zu den eisernen Haltenieten. Auf einem Schild an einem Haus konnte Nagl lesen, daß Zimmer zu vermieten waren. Er läutete und ein glatzköpfiger Mann zeigte ihm einen dunklen Raum, durch dessen Fenster der Dampfer »Appia« zu sehen war. Er bezahlte die Miete für eine Woche und setzte sich in ein Cafe unter ein grünes Leinendach. Er dachte an Anna, daß sie sich immer weiter von ihm entfernte, und um sich abzulenken, blickte er zu dem Fenster des Zimmers hinauf und zu den Schiffen, auf deren Taue die Möwen wie aufgefädelt saßen. Nagl trank Wein und fühlte, wie er schwer wurde. Ihm fiel ein Kind mit einer Haube aus gelbem Kreppapier auf, das wie eine Dotterblume aussah. Die Mutter schob einen schwarzen Kinderwagen mit hohen Rädern. An manchen Häusern des Zattere waren die Türen und Rolläden geschlossen und erinnerten Nagl an den Winter und an Island, aber Island war jetzt mit der Abreise an Anna verbunden und er hörte auf, daran zu denken. Mit einem Vaporetto fuhr er zum Markusplatz. Irgend etwas in ihm sagte, daß es aussichtslos war, was er machte. Auf einer der Steinbänke an der Wand saß ein junger Mann, eine Frau stand zwischen seinen Beinen und streichelte sein Haar. Nagl dachte daran, wie schön es wäre, von einer fremden Frau gestreichelt zu werden, und gleichzeitig war in seiner Vorstellung die fremde Frau mit einem Samtmantel bekleidet, wie Anna. Er hörte die knatternden Flügel und das Gurren von Taubenschwärmen, und ging am Campanile vorbei zum »Cafe Quadri«. Zwischen den Arkadenbögen hingen riesige Vorhänge, die ihm die Sicht auf die Geschäfte nahmen. Neben einer Kamera, die auf einem dreibeinigen Stativ stand, zählte ein Fotograf Kleingeld. Nagl sagte, daß er eine Fotografie wünschte. Der Fotograf griff in einen Papiersack und warf Taubenfutter vor seine Füße. Sofort war er von Tauben umschwirrt, die sich auf seinen Kopf setzten, auf seine Schultern und Arme und seine Füße umschwärmten. »Ohne Tauben!«, sagte Nagl. Der Fotograf kam aus seinem schwarzen Tuch hervor und verjagte die Tauben. Nagl machte ein ernstes Gesicht. Nachdem er bezahlt hatte, gab ihm der Fotograf eine Visitenkarte. Nagl schrieb Annas Adresse auf, die Fotografie solle an die Signora geschickt werden.
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