Winterreise
geherrscht: In den Holzknechthütten, in den Stuben, in den Ställen, in den Arbeitsräumen. Manchmal hatte er von innen vor den kleinen Fenstern die grünen Blätter von Blumen gesehen, die man in Töpfe gepflanzt hatte und die den Eindruck erweckt hatten, sie würden das Haus mit einem leuchtenden grünen Schirm beschützen. Aber was wirklich geherrscht hatte, war Finsternis gewesen, während das wenige Licht, gefiltert durch Pflanzen, nur den falschen Eindruck erweckt hatte. In der Schmiede war es so finster gewesen, daß er, anstatt durch das Glasfenster in das Haus hineinzuschauen, sein gespiegeltes Gesicht hinter den Blumen gesehen hatte. Nicht weit vom Bienenstand hatte Nagl eine kleine Holzkapelle entdeckt. Auf einem Tisch war eine große Vase mit Sonnenblumen gestanden. An der Wand war ein Votivbild gehangen, auf dem ein Mann mit auffällig langer Nase und erhobenen Händen vor einem Bett und daneben die Frau mit dem Kind am Arm zu sehen gewesen war. Über ihnen, in einer bläulichen Rauchwolke, die den Himmel darstellte, Maria, die hier Unsere Liebe Frau von Heilbrunn geheißen hatte, mit Krone und Jesusknaben, den Blick aus einem Gemisch von Stolz, Leid und Liebe ins Nichts gerichtet, wodurch sie etwas von jener Unantastbarkeit bekommen hatte, die strenge, gerechte Märchenkönige in der Vorstellung von Kindern haben. »Zur Danksagung der augenscheinlichen Gefahr, da meine sechsjährige Tochter in einer gefährlichen Krankheit lag, durch die Fürbitt Maria wurde sie wieder gesund«, hatte er unter dem Bild gelesen. Es war da gehangen wie ein leuchtendes Dokument, ein Beweis. Er erinnerte sich daran, während er gleichzeitig an das Begräbnis dachte. »Vielleicht«, dachte er plötzlich, »war es wirklich das Gescheiteste, sich dem Leben anzuvertrauen, wie man sich dem Tod anvertraut, auch wenn die Nähe zum Leben eine Nähe zu den Schrecken des Lebens bedeutet.«
Auf einer Landkarte war die k. u. k. Monarchie gezeichnet, mit Wien als Hauptstadt. Die Flüsse waren so dünn gemalt wie Kapillaren, die Gebirge wie schmelzende Eisschollen; die Karte hing schon immer an der Wand. Nagl war sie bereits aufgefallen, als er das Klassenzimmer zum ersten Mal betreten hatte, jetzt war sie für ihn so alltäglich wie die Fotografie des Bundespräsidenten und das Kreuz über dem Katheder. Er verschloß das Klassenzimmer und die Schule und ging quer durch den Obstgarten auf den Teich zu, auf dem er die Kinder noch immer Schlittschuh laufen sah. Eines lag auf dem Bauch und haute mit einem Hockeyschläger auf das Eis.
»Weshalb haust du auf dem Eis herum?«, fragte Nagl. Das Kind lachte und fuhr davon .
Gleich darauf flog langsam und niedrig mit einem sausenden Lärm ein blauer Hubschrauber über die Schule. Die Kinder standen dicht beisammen und schrieen aufgeregt.
Dann war der Hubschrauber nur noch ein kleiner Punkt in der Ferne. Nagl sah ihm nach, bis er verschwunden war.
Immer schon hatte der Lehrer den Vesuv sehen wollen. Er hatte Bücher über den Vulkanismus gelesen, über Ausbrüche des Ätna, des Stromboli, des Fudjiyama, aber am meisten hatte er sich für den Vesuv und Pompeji interessiert. Pompeji war ihm vorgekommen wie ein Friedhof von Träumen, deren Bilder erstarrt und erkaltet waren. Wie oft hatte er daran gedacht, in Pompeji zu verschwinden oder sich in den Vesuv zu stürzen, aber plötzlich, während er noch immer in die Ferne schaute, in der der Hubschrauber sich in nichts aufgelöst hatte, dachte er, daß es soweit sei.
Im Zimmer war es aufgeräumt. Die silberne bäuerliche Taschenuhr mit dem eierschalenfarbenen Ziffernblatt und den goldenen, verzierten Zeigerchen, die er von seinem Großvater geerbt hatte, lag auf dem Tisch auf der Zeitung, wo er sie in der Früh, nachdem er sie aufgezogen hatte, liegengelassen hatte. Er nahm sie in die Hand, sie war kalt, er hielt sie an sein Ohr und ließ sie ticken. Die Rückseite der Uhr war abgegriffen und von einem eingravierten Blumen- und Blattmuster verziert. Er dachte an die Bauernhäuser in Stübing, an die Zeit, die verging, an den Fudjiyama und den Vesuv. Die Frau des Gendarmen hatte er vergessen, aber plötzlich fiel ihm Anna ein, die ihm untreu gewesen war. Er sah sie vor sich: Klein, dunkel, mit großen Augen und einem Kindergesicht. Er hatte Lust, sie zu sehen und zu überreden, mit ihm zu kommen. Auf einmal war ihm egal, was geschehen war und was geschehen würde. Der Gedanke war ihm eine Erleichterung. Er fand ein Buch mit
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