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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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Möwen im gelben Licht und das fließende Licht auf den Wellen. Vom Vaporetto aus blickte er, als er den Kanal hinunterfuhr, in das goldene Sonnengeäder zwischen den Wolken. Er zwang sich, in den Himmel zu schauen. Vielleicht war das das schönste Gefühl, dachte der Lehrer, wovon er seinen Schülern hätte erzählen müssen, daß die Freiheit ein Zustand war, in dem sie keine Angst mehr verspürten. Eine Frau in einem Pelzmantel mit einer großen Sonnenbrille saß vor ihm, und er beschloß, ihr zu folgen. Sie fuhren zwischen den Palazzi, an denen die grüne Farbe der Läden über das Gemäuer geronnen war, und Nagl starrte der Frau in den Nacken. Er dachte, daß sie den Blick spüren mußte. Er wollte, daß sie sich umdrehte, damit er ihr Gesicht sähe, er glaubte auch daran, daß sie ihren Kopf bewegen würde, wenn er ihr nur entschlossen genug in den Nacken sah, aber das Vaporetto fuhr weiter, und die Frau drehte sich nicht nach ihm um. In Gedanken schwor sich Nagl, daß er die Frau ansprechen würde, ganz gleich wie sie aussah und was passierte. Das Traghetto vor dem Obst- und Fischmarkt überquerte den Kanal und dort, wo am Vormittag der Fischmarkt war, standen aufgestellte Schubkarren. Die Rialto-Brücke tauchte Stück um Stück wie eine weiße Mauer hinter der Biegung auf, und sie fuhren unter ihr hindurch. Vor der Anlegestelle zur Accademia zitterten auf dem Wasser Tausende goldener Lichtpunkte, die Abendsonne ließ die Fenster der Palazzi honiggelb und weiter entfernt pflanzenhaft grün leuchten. Die Frau stieg an der nächsten Station aus und Nagl sah zum ersten Mal ihr Gesicht. Es war nicht mehr jung. Ihr Haar war blond gefärbt und gepflegt und ihre Hände verrieten, daß sie etwa fünfzig Jahre alt war. Nagl folgte ihr in eine Birreria, in der sie vom Mann hinter der Theke begrüßt wurde. Er mußte sie ansprechen, aber er fand nicht den Mut und starrte ihr ins Gesicht, wenn niemand sie beobachtete. Sie warf ihm hin und wieder einen Blick zu, drehte sich aber rasch weg, sobald ihre Augen sich trafen. Die Birreria füllte sich langsam mit Menschen, und da die Frau vom Wirt immer weniger beachtet wurde, wurde Nagl mutiger. Die Frau war eine Schwedin, die in Venedig mit einem Schauspieler verheiratet gewesen war. Aber ihr Mann hatte sie verlassen, und ihre Kinder lebten getrennt von ihr. Nagl lud sie zum Essen ein, sie lehnte jedoch ab. »Dann auf ein Glas Wein?«, fragte Nagl. Ja, ein Glas Wein trinke sie mit ihm. Sie lachte und Nagl bemerkte, daß sie zuviel getrunken hatte. Sie erzählte ihm von ihrem Leben, sprach hektisch und gab ihren spontanen Einfällen nach. Welchen Beruf er habe, fragte sie. Nagl antwortete, er sei Arktisforscher. Er erzählte von den Vulkanen auf Island und dem Aschenregen und den Gletschern. Die Frau wollte daraufhin wissen, wie lange er noch in Venedig sei, und Nagl sagte, daß er am nächsten Tag abreise … Am nächsten Tag schon? Ja, am nächsten Tag. Das sei schade. Wo er wohne? Am Zattere al Ponte Lungo. Aha. Er habe dort ein Zimmer gemietet. Ob er sie zu sich einladen dürfe?
    Er kaufte eine Flasche Merlot und nahm ein Boot zum Canale della Giudecca. Im Boot sprachen sie nicht miteinander, obwohl Nagl sich bemühte, über etwas zu sprechen, das die Frau ablenken würde. Er fragte sie, wie sie heiße, und sie sagte Luisa. Seit sie in Venedig lebe, habe ihr Mann sie so genannt. Sie fuhren den Canale della Giudecca hinauf.
     
    Er sperrte die Zimmertür auf und führte sie in das dunkle Zimmer mit dem Kamin, dem Spiegel und dem Koffer. »Ah, Sie haben schon gepackt«, sagte die Frau. Sie setzte sich und warf einen Blick auf das Schiff vor dem Fenster und das nächtliche Meer. »Schreiben Sie Bücher?«, fragte sie. Sie zog ihren Pelzmantel aus. Nagl legte sich auf das Sofa und lehnte sich mit dem Oberkörper an die Wand. Er sagte, er schreibe Bücher über Vulkane und über die Pflanzen der Arktis. Er begann wieder darüber zu reden, öffnete die Flasche, fand aber keine Gläser. Er bat sie um Verzeihung, daß er keine Gläser habe, aber die Frau lachte nur und sagte ihm, er solle das Licht abdrehen. Nagl tat es, und die Frau sagte: »Ich kann es nicht. Sie sind so jung.« – »Sie werden es morgen bereuen«, sagte die Frau nach einer Pause. »Sie dürfen das Licht nicht aufdrehen.« Sie ging zum Bett und entkleidete sich und schlüpfte unter die Decke, und Nagl ließ seine Hose fallen und folgte ihr. Ihre Brust war groß und fest und ihr Loch war heiß und naß, aber sie
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