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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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»Selbstverständlich«, erklärte der Fotograf. Auf einem der mächtigen, eierschalenfarbenen Vorhänge war in schwarzer Schrift »Glove« zu lesen. Das »Cafe Quadri« hatte geöffnet. Er beeilte sich, in das Hotel zurückzukommen, und ließ sich vom erstaunten Portier die Rechnung geben. Die Signora würde nicht mehr zurückkommen, sagte er. Er holte seinen Koffer und ging zum Zattere al Ponte Lungo.
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    Als er das Hotel hinter sich gelassen hatte, fühlte er sich erleichtert. Im grellen Mittagslicht verblaßten die Farben der Häuser, wie Krebsschalen, die an der Sonne trocknen. Er fuhr ein Stück mit dem Vaporetto, und vom Wasser aus sahen die Häuser noch bleicher aus. Nur an einem Palazzo leuchtete ein goldenes Mosaik mit Figuren und weißverhängten Bogenfenstern. Auf einer der Glasscheiben stand in Gold der Name des Besitzers Salviati. Die Auslagen waren leer und mit Leinen ausgeschlagen. Salviati war ein bekannter Glasfabrikant, und jetzt, mit dem Koffer auf den Knien, im Vaporetto, das durch das helle Mittagslicht fuhr, dachte er wieder an den Großvater. Die Chiesa Maria del Saluti schimmerte ganz weiß. Er erkannte, daß er zu weit gefahren war, blieb aber ruhig sitzen. Er saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und schaute auf die weißen Statuen, die vor dem Hotel »Bauer Grunwald« aus dem Canale kamen. Alles sah blaß und blutlos aus, selbst die bunten Pfähle verloren auf die Entfernung die Farbe. Ihm gegenüber saß eine Frau mit weißen Wollhandschuhen, in denen sie ein pelziges Insekt hielt. Nagl beugte sich vor und erkannte, daß es eine Grille war.
    Er setzte sich in ein Ristorante und stellte den Koffer neben sich auf einen Sessel. Er vermißte Anna. Der Kellner kam und wollte den Koffer zur Garderobe tragen, aber Nagl verbot es ihm. Er hatte getrunken und kam sich geheimnisvoll vor. Er konnte ein Vertreter für Rasiermesser sein. Der ganze Koffer war voller Muster aus Elfenbein, schwarzem Kunststoff, Horn und polierten Holzgriffen. Dann hatte er Rasierpinsel feinster Art, aus Dachshaaren und Büffelschwänzen, in seinem Koffer, hehe. Oder der Koffer war voll Banknoten von einem bewaffneten Überfall … Er starrte den Koffer voller schmutziger Unterwäsche an und fragte sich, warum er ihn mit sich trug. Was sollte er mit der schmutzigen Unterwäsche und den Hemden? Aber es würde ein schlechtes Bild machen, wenn er ohne Koffer sein neues Zimmer bezog. Das würde nicht gut aussehen, wenn er gar nichts bei sich hatte. Er schaute zum Wasser hin, das quecksilberfarben war. Ihm fiel ein, daß Winter war und er blickte versonnen in den öligen Rauch, der aus dem Dach eines Vaporettos quoll, als er an einer Landestelle an der gegenüberliegenden Seite des Kanals anlegte. Dann starrte er wieder auf das Tischtuch und dachte an Anna. Wenn er daran dachte, daß sie zu Hause war, glaubte er, sie endgültig verloren zu haben. Er stellte sich vor, daß sie im leeren Eisenbahnabteil saß und schlief. Vielleicht würde sie sich auch mit einem Mitreisenden unterhalten und Nagl vergessen haben. Der Gedanke schmerzte ihn, aber er fühlte, daß es richtig war, wenn es so geschah. Als er nach einiger Zeit wieder hinausschaute, merkte er, daß es dunkler war und die Farben der Häuser wieder satter geworden waren. Niedrig fliegende Wolken zogen über den Kanal und erinnerten ihn an das Begräbnis des Tierarztes, aber er hatte jetzt nichts dagegen, sich zu erinnern. Plötzlich waren die Palazzi dotter- und teefarben, und durch die Scheibe des gegenüberliegenden Cafes sah er blauweißkarierte Tischtücher. Der Kanal war bis auf die Vaporettos leer, und silberne Regenstreifen stürzten nieder. Nagl saß hinter der Glasscheibe, vor der geöffneten Eingangstür standen Menschen und schauten in den strömenden Regen. Ein Wintergewitter grollte ferne, und ab und zu hastete jemand am Ristorante vorbei. Kurz darauf hatte es zu regnen aufgehört, und der Himmel war eisfarben geworden, mit gelben und blaßblauen Wolken, zu denen Nagl aufschaute. An den Rändern der Dächer mit den merkwürdigen Schornsteinen, die sich nach oben hin verbreiterten, war der Himmel zart gelb und blau gefärbt, als ob es Abend wäre, aber der Nachmittag war erst angebrochen. Ein Mann trug ein Kind auf dem Arm mit einem Tuch über dem Kopf, daß es aussah wie ein zugehängter Vogelkäfig. Nagl bezahlte und ging in die kalte Jännerluft. Ein Mann in Arbeitskluft kam ihm mit einem großen Strauß Rosen entgegen, neben ihm lief ein Straßenköter,
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