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Jagdzeit

Jagdzeit

Titel: Jagdzeit
Autoren: David Osborn
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Prolog
    Der Bezirksstaatsanwalt hielt sich selbst für einen durchaus empfindsamen Menschen. Während er mit Alicia Rennick und ihren steif dasitzenden Eltern sprach, hatte er auf einmal das Gefühl, den Ausdruck in Alicias hohlen Augen nicht länger ertragen zu können. Es war nicht so sehr die leidvolle Erinnerung an Schrecken, Ekel und Schmerz; das alles hatte er schon oft genug bei anderen jungen Frauen gesehen, die vergewaltigt worden waren. Es war vielmehr der dumpfe Widerschein der irgendwo tief in ihr wachsenden Erkenntnis, dass sie völlig verraten worden war.
    Also wandte er sich von ihr ab. Und auch von Mr. und Mrs. Rennick. Er schwang seinen ledergepolsterten Bürostuhl herum und starrte vorbei an dem scharf und zuversichtlich dreinblickenden Porträt Präsident Eisenhowers an der Wand neben den hohen, von Vorhängen eingerahmten Fenstern. Draußen traf goldenes Nachmittagslicht die Ulmen, welche den Stadtpark und die ihn umgebenden roten Ziegelbauten aus dem frühen 19. Jahrhundert überragten. Jenseits der Äste und Blätter und durch sie hindurch konnte man andeutungsweise den Turm der presbyterianischen Kirche und den Glockenturm der Universität erkennen. Später sollte sich der Staatsanwalt noch an diesen speziellen Moment erinnern und daran, wie impotent und heuchlerisch ihm ironischerweise die amerikanische Flagge vorgekommen war, die bewegungslos in einer Ecke des Büros stand, ihr gebündelter Stoff eine Ansammlung von roten, weißen und blauen Vertikalen.
    Es war totenstill. So still, dass es schien, die dunkelgetäfelten Wände und der schwere Teppich erstickten sogar die Gedanken. Aber Gedanken waren sehr wohl da. Gedanken, die in Worte gefasst und laut ausgesprochen werden mussten. Er kannte das Was. Das Wie war so schwierig. Es gab da Dinge, von denen die Rennicks keine Ahnung hatten und die er ihnen nicht sagen wollte. Wenn diese Dinge ausgesprochen würden, würde das Mädchen noch mehr verletzt werden, als sie es ohnehin schon war.
    Als er sich wieder umwandte, vermied er Alicias Blick und sah stattdessen Rennick an, ein großes, untersetztes Exemplar der gutbürgerlichen Mittelklasse, mit Augen, die schon klein geworden waren vor lauter Wohlanständigkeit und Phrasendrescherei.
    Er weiß es, dachte der Bezirksstaatsanwalt, Rennick ist nicht blöd. Aber er wird so tun, als wüsste er nichts. So kann er die ganze Tonleiter rauf- und runterspielen. Für Rennick würde es unnötigerweise nur darum gehen, das Gesicht zu wahren.
    „Ich möchte nicht, dass Sie denken, dieses Amt habe kein Verständnis, Mr. Rennick. Wir sind hier, um Ihnen und Alicia in jeder nur möglichen Weise zu helfen. Aber Verständnis, ich meine amtliches Verständnis in Form einer öffentlichen Anklage — nun, das ist für Alicia vielleicht jetzt gerade nicht das Richtige. Denken Sie wirklich, nach allem, was sie durchgemacht hat, braucht sie da noch öffentliche Zurschaustellung? Braucht sie nicht eher Ruhe und Schutz?“
    „Was meinen Sie mit Zurschaustellung?“ Das kam von Mrs. Rennick. Trotzig. Eine kräftige Frau in den Vierzigern, mit noch guter Figur. Aber ihr sorgfältig und übertrieben geschminktes Gesicht war eine Maske rechtschaffenen Anstands. Sie war mal attraktiv gewesen. Sie wäre es vielleicht noch, wenn sie es sich selbst erlaubt hätte.
    „Er meint einen Prozess“, erklärte Rennick ihr geduldig. „Presseberichte.“
    Aber ihrer Entrüstung Ausdruck zu verleihen war plötzlich erträglicher, als sich um das Wohl ihrer schweigenden Tochter zu sorgen. Sie fühlte sich persönlich angegriffen. Und mit ihr alle Frauen. Angegriffen von der nicht endenden privilegierten Verschwörung der Männer. Gott, wie sie deren selbstgefällige Posen verabscheute.
    „Ein Prozess stellt die Schuldigen zur Schau und bestraft sie“, ätzte sie zurück. „Wir wissen alle, wer sie sind und was sie getan haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand Alicia verurteilen wird!“
    Alicia rührte sich nicht. Sie war achtzehn und hübsch in einer zerbrechlichen, unsicheren und gehemmten Art. Ihre schmalen Künstlerhände lagen gefaltet, bewegungslos in ihrem Schoß, auf dem gerade geschnittenen Kleid, das ihre Mutter sie zu tragen gezwungen hatte, ein besonders hochgeschlossenes Kleid, als ein brennendes Symbol geschändeter Weiblichkeit.
    Der Bezirksstaatsanwalt erinnerte sich daran, wie sie ein einziges Mal flüchtig gelächelt hatte. Es war das sanfteste und verlorenste Lächeln, das er je gesehen hatte. Er
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