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Schlüsselherz (German Edition)

Schlüsselherz (German Edition)

Titel: Schlüsselherz (German Edition)
Autoren: Liv Abigail
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Kapitel I
     
    London hüllte sich in Grau und versteckte sich im schräg fallenden Regen wie hinter Schraffierungen von Bleistiftstr i chen. Es schien, als wolle die Stadt nicht gesehen werden.
    Valender Beazeley ging es an diesem Abend ganz ähnlich. Er dur f te nicht gesehen werden. Mit hochgeklapptem Kragen trat er aus dem kleinen Laden, mitten hinein in die unbehagliche Aprilnacht, und blickte sich verstohlen um. Kein Mensch war auf den Straßen; hinter einem blinden Fenster saß nur eine veraltete mechanische Katze und starrte trübselig ins kalte Nass, das ihre Zahnräder rosten lassen würde, ehe die erste Maus den stumpf gewordenen Krallen zum Opfer fiele. Armes Ding.
    In seinem Rücken klackerte das Schloss. Ein Sichtschutz wurde an der Innenseite der Milchglastür herabgezogen und das Licht, das eben noch in einem blassen Rechteck auf die nasse Straße gefallen war, verlosch. Valender hatte bezahlt. Nun war er hier nicht länger erwünscht, die alte Miss Mary würde ihm selbst dann nicht mehr die Tür öffnen, wenn er vor Räubern oder Dämonen flüchten müsste. Lautlos seufzend machte er sich auf den Heimweg. Die halb verfa l lenen Backsteinbauten der Toynbee Street erinnerten ihn jedes Mal an Miss Marys unvollständige Zahnreihen, wohl auch, weil die Straße ganz ähnlich roch wie der Atem der Alten. Er passierte die Hamal-Fleischerei, einen verdreckten Gebrauchtwarenladen und mehrere seit Jahren verrammelte Ladenlokale. Nur aus wenigen Schornste i nen dieser Nebenstraße stieg noch Kohlenrauch auf und färbte die rotbraunen Fassaden schwarz. Valender atmete auf, als er die breit e re, von Gaslampen bleich erhellte Commercial Street erreichte. Die empfindlichen Waren, die er Miss Mary abgekauft hatte, steckten in einem Leinensack unter seinem Walkmantel, wo sie hoffentlich nicht nass werden würden. Doch als er nach wenigen Schritten spürte, wie der Regen sich an den Schultern durch den zu lang nicht mehr gefe t teten Stoff fraß, begann er daran zu zweifeln. Er lief schneller und ärgerte sich maßlos, quer durch die Stadt fahren zu müssen, um sich seine – zugegeben ein wenig speziellen – Wünsche zu erfüllen. Doch andere Geschäfte aufzusuchen, war zu riskant. Die Händler könnten ihn verraten. Vermutlich nicht mit Absicht, wobei eine unb e dachte Erwähnung ihn schon einmal näher an den Rand der Katastr o phe geführt hatte , als er je gelangen wollte. Zur alten Miss Mary zu g e hen, die ihren Laden seit Jahren nur noch auf Anfrage ihrer Stam m kunden öffnete, erschien Valender sicherer, und obgleich er sich a n sonsten als abenteuerlustig – gar verwegen – b e zeichnete, so machte er in diesem speziellen Fall eine konsequente Ausnahme. Phillip Beazeleys düstere Drohungen verfehlten ihre Wirkung nie.
    Der Regen wurde stärker. Ein Wasserrinnsal lief ihm aus dem Haar in den Nacken und von dort aus die Wirbelsäule hinab. Er presste die Leinentasche fester an seine Brust und rannte, bis der Windscha t ten der Christ Church ihn notdürftig vor den Wassermassen schüt z te. Taubengurren erklang unter dem Portalgiebel und wurde von den Wänden gespenstisch zurückgeworfen. Jeder Windstoß ließ die noch kahlen Kronen der nahen Rotbuchen zittern, die Äste klapperten im Wind wie tanzendes Gebein. Valender fummelte umständlich seinen portablen Chronografen aus der kleinen Tasche im Brustfutter seines Mantels, ohne dabei einem Tropfen Gelegenheit zu bieten, unter den Stoff zu kriechen. Fünf nach halb elf, die nächste Dampfbahn würde erst in einer Viertelstunde fahren. Er konnte sich eine Kutsche rufen, aber Kutschleute waren geschwätzig, also wog er das Für und Wider eines Fußmarsches ab. Es war nicht weit bis in die City, doch würde sein Mantel resignieren, und der Regen seine Neuanschaffungen durchweichen.
    Als er noch überlegte, sah er auf der anderen Straßenseite eine zie r liche Gestalt aus dem Pub Ten Bells treten. Die Silhouette ließ eine Frau vermuten, aber welches weibliche Wesen ging schon freiwillig in eine solche Spelunke? Das Viertel war kein guter Ort für Frauen. Seit hier 1888 der berüchtigte Ripper-Jack sein Unwesen getrieben hatte, gab es immer wieder Nachahmer, und in Ermangelung menschlicher Prostituierter nahmen diese es in Bezug auf den Beruf ihrer Opfer selten genau. Manche Trunkenbolde behaupteten sogar, dem verblichenen Rest des lege n dären Mörders höchstpersönlich begegnet zu sein, der in diesem Viertel immer noch seinem blutigen Laster frönte, und
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