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Wenn du mich brauchst

Wenn du mich brauchst

Titel: Wenn du mich brauchst
Autoren: Jana Frey
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ein Wort Englisch gesprochen. Nur noch jiddisch oder hebräisch. Und in ihr Geburtsland bringen sie keine zehn Pferde jemals zurück, sagt sie oft.
    Die Nazis kamen am helllichten Tag. Nachdem Esther, ihr Bruder Mendel und Jakob so lange Angst gehabt hatten, war die Angst in den letzten Wochen immer kleiner geworden, dahingeschrumpft, einfach allmählich fortgeweht.
»Hier findet uns keiner. Und bald wird Frieden sein, Esther. Ich bin mir sicher. Ich verspreche es dir«, sagte Jakob und küsste sie.
Der Dachboden war zwar nur ein dunkler, staubiger und enger Dachboden, aber er war auch Schutzwall, Nest, Sicherheit. Und manchmal tatsächlich so etwas wie Glück.
Warum waren sie nur nicht schon viel früher geflohen? Damals, als Goldmanns, Kleins und die Familie Schwarz die Stadt und dann sogar das Land verlassen hatten? Sie alle waren Nachbarn und Freunde von Esthers und Jakobs Familien gewesen.
Es war wegen Mendel geschehen. Weil Mendel klein, krank und schwach war. Er war schon so geboren, mit zu weichen Knochen, die viel zu oft brachen. Er wuchs nicht ordentlich, er hustete und sein Atem pfiff, er fieberte leicht. Ihm war eine Flucht nicht zuzumuten, fanden Esthers Eltern. Esthers Vater war ebenfalls nicht gesund, er traute sich die lange Reise nicht zu. Darum waren sie geblieben. Sie, die Eltern und Jakob, der außerdem wütend und trotzig war und sich dem Druck der Nazis nicht beugen wollte.
Jakob, rührender Jakob. Dabei war Jakob groß und stark und man konnte sich sicher in seinen Armen fühlen. Er studierte die Thora, konnte singen und wollte Lehrer werden. Aber der Krieg war ihm dazwischengekommen.
»Kleine Esther«, sagte er manchmal, damals als sie sich gerade erst lieben gelernt hatten. Denn kennengelernt hatten sie sich schon als Kinder. Esther und Jakob waren zusammen aufgewachsen. Nachbarskinder. Esther war klein und mädchenhaft gewesen, aber sie war nicht adrett und leise wie die anderen Mädchen in der Straße. Stattdessen ribbelte sie ungeduldig ihre fest geflochtenen Zöpfe auf, sobald sie den Erwachsenen entkommen waren. Sie bewahrte Regenwürmer in ihrer Rocktasche auf und konnte mit Fröschen sprechen. Sie ritzte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, als Erste die Haut auf, um mit Jakob Blutsbrüderschaft zu schließen. Sie konnte auch fast genauso schnell laufen wie er. Sie war stark wie ein kleiner Ochse. Und sie hatte die schönsten grünsten Augen der Welt.
Mit elf Jahren spürte Jakob zum ersten Mal, dass Esther ein Mädchen war. Er roch ihre Haare und den Duft ihrer gebräunten Haut und liebte den festen Griff ihrer kleinen Hand mit den schmalen Fingern. In diesem Sommer beschloss er, immer mit Esther zusammenzubleiben. Er sagte es ihr nicht, aber er fühlte, dass er ihr mit Haut und Haaren gehörte. Und das fühlte sich schön an.
In diesem Jahr wurde Esthers Bruder Mendel geboren, ein winziges, hässliches Baby mit schon damals leicht verformten Extremitäten, aber Esther liebte ihren kleinen Bruder innig. Als es acht Tage nach seiner Geburt feierlich beschnitten wurde, nahm Esther Jakob ein Versprechen ab.
»Versprich mir, dass du immer gut zu ihm bist. Dass du mit mir zusammen auf ihn aufpasst«, sagte sie zu Jakob und sah ihn fest an dabei. »Tust du das?«
Jakob verstand die Eindringlichkeit in Esthers Stimme nicht, aber er hätte ihr alles versprochen und darum versprach er auch dies. Liebe und Fürsorge für Esthers kleinen, hässlichen Bruder Mendel.

Eines Tages kam die SS und verhaftete Esthers Vater. Er war einer der Ersten aus dem Dorf, den sie holten. Die Mutter schrie in dieser Nacht, bis sie ohnmächtig zusammenbrach. Esther hielt sich die Ohren zu und wünschte sich, ihre Mutter würde sich zusammenreißen. Andere Frauen kümmerten sich um sie. Mendel bekam Nasenbluten vor Angst. Und einen Fieberkrampf. Esther hielt ihn stundenlang umschlungen.
Zwei Wochen später nahm sich die Mutter das Leben.
»Wie konnte sie das tun? Wie konnte sie mir das antun?«, schrie Esther fassungslos, als man die Mutter aus dem Fluss fischte wie einen traurigen Packen nasser Wäsche.
»Sie war verzweifelt, Esther, verzweifelt«, flüsterte Jakob rau, hielt Esther fest. Erst vor einem halben Jahr hatten sie geheiratet. »Ich liebe dich, Esther Mandelbaum«, flüsterte Jakob. »Ich liebe dich.« Aber seine Stimme hatte einen hilflosen Klang. Er wusste, dass alle Worte dieser Welt Esther in diesem Moment nicht helfen konnten.

Im Jahr darauf zogen sie auf diesen verlassenen Dachboden
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