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Wenn du mich brauchst

Wenn du mich brauchst

Titel: Wenn du mich brauchst
Autoren: Jana Frey
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weinte. Meine Urgroßmutter weinte sonst nie. Sie konnte ironisch, sarkastisch, zynisch, wütend werden. Aber sie weinte nicht.
    »Ach, Bubba«, sagte meine Mutter leise und eine Spur erschrocken.
    »Wej is mir«, flüsterte Esther schon wieder ärgerlich und wischte sich energisch die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Blick wanderte durch das nur von den beiden Kerzen erhellte Wohnzimmer zu der kleinen Anrichte, in der meine Eltern immer ein paar Flaschen israelischen Wein aufbewahrten. Aber am Schabbat trank Esther nicht, niemals.
    »Ich bin müde, ich will zu Bett. Noch lieber möchte ich tot sein. Warum muss ich so abscheulich alt werden? Ich wünschte, Haschem hätte Erbarmen mit mir und ließe mich endlich sterben. Jakob wartet auf mich, da bin ich mir sicher«, sagte sie und erhob sich schwerfällig. Ihre Armbänder klirrten und ich sah die Ziffern an ihrem Unterarm, umgeben von pergamentener, mit Altersflecken übersäter Haut. Mein Mund fühlte sich auf einmal seltsam trocken an. Warum sprachen wir bloß so selten über Esthers Vergangenheit? Über die ganze Vergangenheit? Über diesen schrecklichen Krieg?
    »Entschuldigung, ich hätte das nicht singen sollen«, flüsterte Shar betroffen. »Meine Großmutter singt es oft. Für mich ist es nichts Besonderes. Meine Bubba sagt, sie singt es im Gedenken an meine Urgroßeltern, die aus Warschau stammten und lange im Warschauer Getto waren, ehe sie …«
    Sharoni verstummte.
    »Ist schon gut, mein Mädchen«, murmelte Esther und strich Shar über die bunten Haare, ehe sie an ihr vorüberging. »Es ist eben ein verrücktes Lied voller Gefühle – und Gefühle sind manchmal zum Kotzen. Sie können einen quälen. Nichts als quälen, verdammt noch mal …«
    Und damit schloss sie die Tür hinter sich.
    »Verrückte, alte Kruke«, sagte David kopfschüttelnd. »Sie redet nicht unbedingt wie eine feine alte Dame.«
    Sharoni hatte sich auf unser altes Sofa gesetzt, die Beine hochgezogen und das Kinn auf die Knie gelegt.
    »Ich habe den ganzen Abend verdorben«, seufzte sie. »Dabei wollte ich das gar nicht.«
    Meine Mutter, die Esther hinterhergegangen war und gerade erst wieder zur Tür hereinkam, schüttelte den Kopf. David sammelte in der Zwischenzeit die Spielkarten ein und verstaute sie in der Schachtel.
    »Das hast du nicht. Du konntest ja nicht wissen, dass Esther so reagieren würde. Keiner von uns konnte das wissen.«
    »Nein. Aber ich weiß schließlich, dass sie auch in Auschwitz war und dass ihr Mann dort gestorben ist. – Es war gedankenlos von mir und es tut mir leid.«
    Kurz darauf gingen wir in mein Zimmer hinauf.
    »Morgen entschuldige ich mich noch mal bei ihr«, sagte Shar, als wir im Bad waren.
    »Ach Shar, morgen Abend, wenn sie wieder ihren geliebten Wermut trinken kann, wird sie nicht mehr weinen«, erwiderte ich nachdenklich. Ich rechnete einen Augenblick. »Und sie wird tatsächlich bald neunundachtzig. Verrückt, dass sie immer noch so fit ist. Trotz der ganzen Trinkerei, meine ich. Irgendwie unverwüstlich.«
    »Ich mag sie sehr«, sagte Sharoni. »Sie ist wahrhaftig. Und ich mag die Art, wie sie spricht. Dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt, meine ich.« Sie lächelte mir zu.
    Vor dem Einschlafen versuchte ich, mich in Esther hineinzuversetzen, wie sie im Januar 1945, halb verhungert, halb tot, völlig entkräftet und mitten im Vernichtungslager Auschwitz meine Großmutter zur Welt gebracht hatte.
    Ich schaffte es nicht.
    Ein paar Tage vorher hatte sie, das wusste ich, mit ansehen müssen, wie mein fünfundzwanzigjähriger Urgroßvater mit kahl rasiertem Kopf und fast nackt jenseits brutaler Stacheldrahtzäune aus dem Lager getrieben wurde, in einer Traube anderer erschöpfter Häftlinge, die im Grunde nichts weiter waren als junge Männer.
    Danach hat sich seine Spur für immer verloren.
    Das alles hatte mir meine Großmutter in Israel erzählt, nicht Esther. Esther sprach nicht über Auschwitz. Niemals.
Aber meine Großmutter tat es. Sie war das winzige, untergewichtige Baby, das meine Urgroßmutter im Januar 1945 auf dem blanken, eiskalten, von Exkrementen starrenden Boden auf die Welt gebracht hatte.
    Heute lebte meine Großmutter in Ramat Aviv, einem Vorort von Tel Aviv. Aufgewachsen ist sie hier in Amerika. Aber als sie erwachsen war, reiste sie – wutentbrannt auf die Deutschen und ihre tragische Geburt – nach Israel und heiratete einen orthodoxen Juden, meinen hellhaarigen Großvater, Rabbi Yitzchak Cohen. Seitdem hat sie nie mehr
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