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Reise ohne Wiederkehr

Reise ohne Wiederkehr

Titel: Reise ohne Wiederkehr
Autoren: Corinna R. Unger
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|8| Exil und Emigration im 20. Jahrhundert
    D as Phänomen Exil ist ein jahrtausendealtes Phänomen. Schon in der Antike mussten Menschen, die mit den Herrschenden in Konflikt geraten waren, aus ihren Heimatländern fliehen oder wurden gezwungen, sie zu verlassen. Im Altertum wurde das Exil als Sanktion gegen politische Gegner verwendet, von denen sich die Herrschenden bedroht fühlten. Charakteristisch für das Exil ist zum einen die abrupte, unfreiwillige Trennung von der Heimat und das damit verbundene Gefühl der Entwurzelung, zum anderen die Hoffnung, eines Tages in die frühere Heimat zurückkehren zu können.
    Im 20. Jahrhundert wurde das Exil zu einer Erfahrung, die Hunderttausende Menschen teilten, als in Europa Diktaturen entstanden, die ihre Gegner systematisch unterdrückten und bedrohten. In Deutschland wurden all jene von den Nationalsozialisten verfolgt, die deren „rassischen“ Anforderungen nicht genügten, die nationalsozialistische Politik infrage stellten oder als „politisch unzuverlässig“ galten. In den frühen Dreißigerjahren setzte deshalb eine große Fluchtbewegung aus Deutschland und später aus den deutsch besetzten Gebieten ein. Mehr als eine halbe Million Menschen verließen ihre Heimat. Einige von ihnen – vor allem Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler – gingen mehr oder minder freiwillig ins Exil, weil sie sich nicht mit dem NS-Regime arrangieren wollten und befürchteten, unter den neuen Bedingungen nicht genug Freiheit zu haben, um ihre Lebens- und Berufsvorstellungen realisieren zu können. Die meisten Menschen aber mussten aufgrund der rassistischen und politischen |9| Verfolgung buchstäblich um ihr Leben fliehen. Zwischen 1933 und 1941 verließen etwa 278   500 Personen Deutschland und Österreich aufgrund ihrer jüdischen Herkunft bzw. weil sie unter den nationalsozialistischen Gesetzen als „jüdisch“ galten. Hinzu kamen ungefähr 40   000 Menschen, die aufgrund ihrer politischen Ansichten, religiösen Überzeugungen, sexuellen Orientierung oder künstlerischen Tätigkeit als „Feinde“ der „Volksgemeinschaft“ galten und daher ins Exil gehen mussten. 1
    In den Dreißiger- und Vierzigerjahren gab es kaum ein Land, das nicht zum Zufluchtsort für die deutschsprachigen Flüchtlinge geworden wäre. Die meisten von ihnen, etwa 100   000, gingen nach Frankreich, 140   000 in die USA; in Kanada fanden etwa 3000 Menschen Zuflucht. Nach Großbritannien flohen bis Kriegsbeginn ungefähr 75   000 Personen, darunter 10   000 Kinder, die im Zuge der sogenannten „Kindertransporte“ evakuiert und von britischen Familien aufgenommen wurden. Ein weiteres wichtiges Exilland war Palästina, das zwischen 1933 und 1941 mehr als 60   000 deutsche Juden aufnahm. In die Tschechoslowakei flohen mindestens 10   000 Menschen. Bis zum deutschen Überfall auf die Benelux-Länder gingen ungefähr 35   000, vor allem jüdische Exilanten in die Niederlande, nach Belgien und Luxemburg. Über Italien entkamen etwa 68   000 Personen der rassistischen Verfolgung. Ähnlich verhielt es sich mit den Staaten des ehemaligen Jugoslawien, die als Durchreiseländer für etwa 55   000 Flüchtlinge dienten; in Ungarn kamen zwischenzeitlich mehr als 6000 deutsche Juden unter. Dänemark und Schweden nahmen insgesamt mehr als 8000 deutsche Juden auf, die Schweiz etwa 25   000.
    In die Türkei flohen 600 Menschen, die meisten von ihnen Wissenschaftler und Spezialisten, an deren Kenntnissen die türkische Regierung interessiert war. Zypern, das noch unter britischer Herrschaft stand, nahm mehr als 700 Menschen auf. Die Sowjetunion bot Zuflucht für etwa 3000 Personen, zumeist erklärte Kommunisten, die allerdings unter politisch prekären Bedingungen im Exil lebten – etliche von ihnen fielen den stalinistischen „Säuberungen“ zum Opfer. Etwa 5500 Menschen flohen nach Südafrika, 650 nach Kenia. Mehr |11| als 10   000 Personen gingen nach Bolivien, Brasilien und Chile, 30   000 nach Argentinien. Die anderen Länder Latein- und Südamerikas nahmen jeweils mehrere tausend Exilanten auf. Auf Kuba hielten sich zwischenzeitlich um die 6000 Flüchtlinge auf, die von dort weiter in die USA reisen wollten. Nach Australien kamen etwa 9000 jüdische Flüchtlinge, nach Neuseeland um die tausend. Etwa ebenso viele fanden in Indien Zuflucht. Shanghai verlangte bis Ende 1941 als einziger Staat kein Visum; etwa 20   000 Personen nahmen diesen Weg. Nach Japan kamen ungefähr 4000 Juden, die
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