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Reise ohne Wiederkehr

Reise ohne Wiederkehr

Titel: Reise ohne Wiederkehr
Autoren: Corinna R. Unger
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an die deutschen Behörden „verkaufen“ und zusätzlich hohe Ausreisegebühren zahlen, um ihr Mobiliar mitnehmen zu dürfen. Unter Aufsicht eines Zollbeamten wurden die Einrichtungsgegenstände verpackt und in einem sogenannten „Lift“ nach Rotterdam geschickt. Ihre Reisekoffer wurden verplombt, um zu verhindern, dass sie heimlich Wertgegenstände einpackten und am Zoll vorbeischleusten. Im April 1939 reisten die Nathorffs schließlich nach England. Dort mussten sie so lange auf die Weiterreise in die USA warten, dass ihre bereits erworbenen Schiffskarten verfielen. An das Geld, das sie in Deutschland auf der Bank hatten, kamen sie nicht heran, ebenso wenig wie an den Lift. Für dessen Transport sollten sie ein zweites Mal bezahlen, doch dazu fehlten ihnen die notwendigen Devisen. Erst im Februar 1940 gelangte die Familie nach New York City. 10 Im Nachhinein mag es nach einer relativ glimpflich verlaufenen Flucht klingen, doch die entwürdigende Behandlung durch die deutschen Behörden, die anhaltende Ungewissheit und die Furcht vor einer neuerlichen Verhaftung waren einschneidende Erfahrungen – all das als Teil des Verlusts der Heimat.
     
    Auf der Suche nach einem Gastland
     
    Wie die Geschichte der Nathorffs zeigt, galt es nicht nur die deutsche, sondern auch die Bürokratien der Einreiseländer zu überwinden. Vergleichsweise leicht war die Einreise nach Palästina, weil sich zionistische Organisationen auf diplomatischer Ebene einsetzten und finanzielle und organisatorische Hilfe leisteten. So gelang es etwa 60   000 jüdischen Deutschen, nach Palästina zu emigrieren. Für andere Länder waren die Visumsregelungen viel strenger. Dies brachte lange Wartezeiten |26| und umständliche Wege mit sich, die an den Nerven der bedrohten Menschen zehrten. Besonders die USA praktizierten eine sehr rigide Einreisepolitik, die sie seit Kriegseintritt kontinuierlich verschärften. Zwar hatte Präsident Roosevelt 1938 eine internationale Konferenz im französischen Évian initiiert, um über die Möglichkeit zu beraten, Flüchtlinge aus Österreich und dem Deutschen Reich aufzunehmen. Doch die Konferenz ging ohne konkrete Ergebnisse zu Ende; letztlich war keines der beteiligten Länder ernstlich bereit, eine bestimmte Zahl von jüdischen Flüchtlingen zu beherbergen. Auch die USA verschlossen sich der Einwanderung. Sie teilten den verschiedenen Ländern, aus denen Menschen in die Vereinigten Staaten einreisen wollten, jährliche Quoten zu; im deutschen Fall handelte es sich um 27   370 Personen, die pro Jahr ein amerikanisches Visum erhalten konnten. Allerdings wurden diese Quoten nach 1940 nicht mehr ausgenutzt, weil es zu schwierig war, überhaupt das Land zu verlassen, und weil die Anforderungen für ein Visum so hoch waren. Prominente Flüchtlinge konnten noch auf ein spezielles Einreiseprogramm hoffen, doch auch sie mussten ab 1941 zwei Bürgschaften aus den USA vorlegen, um Chancen auf ein Visum zu haben.
    Viele derjenigen, die auszureisen versuchten, befanden sich in einem Wettlauf gegen die Zeit. Die täglichen Drangsalierungen sowie die konkrete Bedrohung nahmen sukzessive zu, während sich die Chancen auf ein Visum mit Beginn des Krieges dramatisch verringerten. Zunehmend war die Wahl des Exillandes nicht mehr eine freie, sondern eine überaus pragmatische Wahl. Hatten die meisten Flüchtlinge in den frühen Dreißigerjahren versucht, in west- und mitteleuropäischen Ländern unterzukommen, weil ihnen deren Kultur am vertrautesten war und sie sich vergleichsweise leicht zurechtfinden konnten, spielten solche „luxuriösen“ Erwägungen später keine Rolle mehr. Auch ganz und gar unbekannte Länder und Kontinente wurden nun zu Zufluchtsorten, einfach deshalb, weil sie Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten boten, die andernorts nicht mehr bestanden. Pinchas Erlanger (geboren 1926 in Ravensburg) erinnerte sich, dass seine Eltern seit 1936 die Auswanderung „nach Palästina, Uruguay und |27| Kenia in Betracht zogen [...], aber sie erwogen auch die Auswanderung in die USA, nach Australien und in die Dominikanische Republik“. Außerdem versuchten sie zeitweilig, Zuflucht in Zypern und Syrien zu finden. Nachdem die Ausreise in die USA am strikten Quotensystem gescheitert war, gelang der Familie schließlich in letzter Minute die Flucht nach Palästina. 11
    Zwischen 1938 und 1939 konnten noch etwa 120   000 Juden aus Deutschland fliehen; dabei mussten sie fast all ihren Besitz zurücklassen. Bis die
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