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Reise ohne Wiederkehr

Reise ohne Wiederkehr

Titel: Reise ohne Wiederkehr
Autoren: Corinna R. Unger
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Organisationen führten wenig später „Arierparagraphen“ ein, mit deren |18| Hilfe den nun offiziell unerwünschten Angestellten fristlos gekündigt wurde. Ein Boykott gegen jüdische Geschäfte sollte im April 1933 dazu dienen, antisemitische Ressentiments in der Bevölkerung zu schüren und die „Nichtarier“ dazu zu bewegen, Deutschland zu verlassen. Bis Mitte der Dreißigerjahre wurde ein Viertel bis ein Fünftel der jüdischen Privatunternehmen „arisiert“, d. h., die Besitzer wurden finanziell und politisch so sehr unter Druck gesetzt, dass sie ihre Betriebe und Geschäfte völlig unter Wert verkauften oder überschrieben. Im September 1935 wurden dann die sogenannten Nürnberger Gesetze verkündet, die die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich faktisch entrechteten. Dabei erfolgte die Definition von Personen als „jüdisch“ unabhängig davon, ob diese tatsächlich gläubige, praktizierende Juden waren und sich selbst als Juden definierten oder nicht.
    Viele derjenigen, die von den Nationalsozialisten aufgrund ihres nominellen „Jüdischseins“ verfolgt wurden, hatten keinen Bezug zur jüdischen Religion und Kultur. Etliche ursprünglich jüdische Familien waren bereits im Kaiserreich zum Christentum übergetreten. Viele von ihnen verstanden sich in erster Linie als Deutsche und erst in zweiter Linie oder gar nicht als Juden. Für sie war es völlig unverständlich, dass die Nationalsozialisten sie plötzlich aufgrund einer Identität, die gar nicht ihre eigene war, angriffen und ausgrenzten. Der Historiker Hans Baron meinte dazu, es sei „das Schlimmste und Fürchterlichste, dass die eigenen Volksgenossen, mit denen man sich zeitlebens eins glaubte, kommen und Volk und Vaterland und alles, was man für heilig hielt, fortnehmen können“. 7 In dieser Formulierung kommt auch zum Ausdruck, dass es nicht allein die offiziellen Instanzen waren, von denen die Diskriminierung und Entrechtung ausging. Große Teile der deutschen Bevölkerung beteiligten sich an der antisemitischen Hetze, unterstützten den Boykott jüdischer Geschäfte, drangsalierten jüdische Nachbarn und Bekannte und taten sich in der Öffentlichkeit mit rassistischen Parolen hervor. Von der Polizei und von Gerichten war keine Hilfe gegen die alltägliche Bedrohung zu erwarten, ebenso wenig wie von anderen Behörden, die sich ganz in den Dienst des NS-Staates stellten. 8
    |19| Dennoch konnten sich anfangs nur wenige der Bedrohten entscheiden, ihre Heimat aufzugeben; nur etwa 130   000 deutsche Juden verließen zwischen 1933 und 1937 das Deutsche Reich. Vor allem ältere Menschen klammerten sich an die Hoffnung, der „Spuk“ werde schon vorübergehen, wenn man nur Geduld habe. Diejenigen, die nicht daran glaubten, zögerten häufig aufgrund familiärer Bindungen, Deutschland zu verlassen. Gerade Frauen fiel es schwer, sich zur Flucht zu entschließen, weil sie ihre Eltern nicht allein zurücklassen wollten. Andererseits fassten alleinstehende Frauen schneller den Entschluss zur Flucht, und viele derjenigen, die verheiratet waren, drängten ihre Ehemänner dazu, die Emigration vorzubereiten. Insgesamt tendierten die Männer jedoch dazu, abzuwarten und auszuharren. Die Vorstellung, das eigene Land zu verlassen, alles aufzugeben und sich von Verwandten und Freunden zu trennen, war für die meisten unvorstellbar.
    |20| Sigmund Freud (geboren 1856 in Prˇibor, Mähren, gestorben 1939 in London), der international angesehene Begründer der Psychoanalyse, war zur Zeit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich schon 77 Jahre alt. Er wehrte sich fünf Jahre lang gegen Aufforderungen von Verwandten und Bekannten, Wien zu verlassen und ins sichere Exil zu gehen. Bereits 1933 hatten die Nationalsozialisten seine Veröffentlichungen verbrannt, weil sie seine Theorien über Hysterie, Traumdeutung, Triebstruktur und Unterbewusstsein für „undeutsch“ und „entartet“ hielten. Doch Freud war schwer krebskrank und wollte deshalb nicht mehr reisen, die Strapazen eines Umzugs auf sich nehmen und, wie er noch Anfang 1938 argumentierte, Österreich im Stich lassen. Doch nach dessen „Anschluss“ war klar, dass der Psychiater in Wien nicht mehr sicher war. Nachdem seine Tochter, Anna Freud (geboren 1895 in Wien, gestorben 1982 in London), von der Gestapo verhört worden war, entschloss er sich schließlich doch zur Flucht. Kurz zuvor zwang ihn die Gestapo noch, eine Bescheinigung zu unterzeichnen, dass er nicht misshandelt
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