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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen
Autoren: Karl Marlantes
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hatte. Einmal warteten zwei Stunden Pornofilme und Popcorn auf uns. Gunny war kein Heiliger. Und wir stellten ihm nie Fragen, auf die er nur mit einer Lüge hätte antworten können.
    Gunny Mike war zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre älter als die Ältesten von uns, was ihn etwa in seine Vierziger brachte. Er kam uns wie ein älterer Onkel vor, oder vielleicht sogar ein Großvater. Sein Wert war unschätzbar, was er tat, brachte ihm keine Orden ein, und was in seiner Militärakte stand, hatte auch nicht im Entferntesten damit zu tun, was er in unserem Versorgungszelt machte. Er gab Ratschläge. Er feierte das Abendmahl, mit einer Tasse Wild Turkey Bourbon und jeder Menge gefriergetrockneter Marschverpflegung, die er ebenfalls von der Army geklaut hatte Er schaffte uns einen Freiraum, in dem wir aufatmen konnten.
    Was Gunny Mike tat, war nicht mehr und nicht weniger als das, was Therapeuten eine Selbsthilfetherapie nennen. Er hatte ein natürliches Talent dafür. Aber solche Dinge lassen sich auch lernen. Ich würde versuchen, alle Soldaten damit vertraut zu machen, die Unteroffiziere und Offiziere intensiv. Das würde langfristig Geld und Leben retten, die Effizienz und schon kurzfristig die Motivation erhöhen.
    Ich stelle mir ein System vor, in dem jede Einheit, vielleicht bis hinunter auf die Zugebene, jemanden aus ihren Reihen wählt, der spirituelle Zeremonien ausführt. Eine weitere Möglichkeit wäre, Sanitäter und Mediziner besonders zu trainieren, die sowieso oft als Zug-Psychologen fungieren. Solch eine Person würde das zusätzlich zu ihren übrigen Pflichten tun. Es wäre falsch, dafür Spezialisten auszubilden, die mit der Drecksarbeit nichts zu tun haben, falsch für die jeweilige Person und falsch für die Einheit. Unsere Jungs redeten mit Gunny Mike, weil er in Korea gewesen war. Mit dem Geistlichen redeten sie fast nie.
    Der einzige Unterschied zwischen den spirituellen Helfern einer Einheit und den anderen Kämpfern würde sein, dass sie zusätzlich zur normalen Ausbildung ein extra Training bekämen. Das könnte gut von einem Geistlichen übernommen werden, der ihnen unter anderem Techniken der Selbsttherapie vermitteln würde und sich bei speziellen Problemen mit in die Therapie einbeziehen ließe. In den einfachen Zeremonien, die der spirituelle Führer abhielte, würde es, ohne besondere religiöse Ausrichtung, darum gehen, die toten Freunde zu betrauern, die toten Feinde zu begraben und den Leuten dabei zu helfen, damit zurechtzukommen, dass sie gerade jemanden getötet hatten, der wahrscheinlich genauso unschuldig in diesem Chaos gelandet war wie sie selbst. Sie könnten auch kleine Zeremonien zur Vorbereitung auf eine Schlacht abhalten, auf das Legen eines Hinterhalts oder eine Patrouille, die zu einem Gefecht führen könnte. Diese Führer und ihre Aktivitäten würden die jungen Krieger geistig und seelisch auf das vorbereiten, was sie zu tun haben. Sie würden helfen, die Kameraden von den Giftstoffen ihrer Wut zu befreien, ihrer Schatten und gelegentlicher sinnloser Unternehmungen. Das würde, stufenweise, stetig und zeitlich so nahe an der Schlacht wie nur möglich, die überwältigenden Gefühle freisetzen helfen und den psychischen Druck des Krieges lindern. Ich denke, wenn in der Richtung mehr getan würde, käme es zu weniger Gräueln. Infanteriezüge haben Sanitäter für den Körper, warum nicht für die Seele?
    Mythologie: Für ein neues Verständnis des Mars
    Jenseits von grundlegenden Änderungen in der Kindererziehung und der militärischen Ausbildung brauchen wir zu guter Letzt auch eine neue Kriegsmythologie. Wir müssen erkennen, dass die Mythologien der Vergangenheit nicht ausreichend Weisheit für unsere heutige Situation liefern. Wir müssen über sie hinauswachsen, auch wenn wir immer noch Mühe damit haben, ihre Bedeutung ganz zu erfassen.
    Das ist nicht neu in der Geschichte. Viele alte Religionen sind verschwunden und durch etwas »Besseres« oder »Wahreres« ersetzt worden. Der Odysseus Homers ist ein anderer als der Odysseus des Sophokles. Odysseus wuchs und veränderte sich, wie das Denken der Dichter wuchs und sich veränderte. Wir müssen von einem alten Epos wie dem
Mahabharata
und seiner
Bhagavadgita
lernen und das Erlernte mit unserem eigenen, erweiterten Wissen aus anderen Epen und Mythen verbinden. In der
Bhagavadgita
sagt Krischna zum verzweifelnden Ardschuna: »Ein weiser Mann weint nicht.« Der Bibelvers, den alle Kinder gerne lernen, Johannes 11 : 35
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