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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen
Autoren: Karl Marlantes
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, lautet jedoch: »Da weinte Jesus.« Wir sind nicht länger auf einen einzigen Stammesmythos angewiesen. Wir können wählen.
    Joseph Campbell sagt, dass die neuen, zukünftigen Weltmythologien die Nationalgrenzen überschreiten müssten. Genau so muss es mit dem Einsatz von Kriegern in der zivilisierten Welt sein. Wenn wir die grundlegenden Pflichten des Kriegers in eine globale und nicht nur nationale Perspektive bringen, gleicht er am Ende eher einem Polizisten. Das hängt damit zusammen, dass wir nahe daran sind, wieder am Anfang anzuknüpfen, und zu den Mythologien der ursprünglichen Kriegsgötter zurückfinden.
    Die Kriegsgötter in prähistorischen Zeiten waren gleichzeitig Götter der Gerechtigkeit und des Krieges. Aus meiner Sicht liegt das zu weiten Teilen daran, dass sich die Stämme und Völker damals fast ausnahmslos für die
einzigen
Menschen hielten. In ihren Augen stellten sie alles Menschliche dar. Demzufolge waren ihre Mythologien und Religionen »global« und erklärten alles. [87] Wenn man nie mit einem Feind konfrontiert wurde, und schon gar nicht mit einem, der über ein völlig anderes religiöses System verfügte, brauchte man keinen Kriegsgott an seiner Seite, weil man selbst die einzige Seite war. Der Kriegsgott war damit eher ein Gott der Gerechtigkeit, der die Differenzen zwischen Gruppen mit grundsätzlich ähnlichen Glaubenssystemen regelte.
    Aber die Populationen wuchsen, Territorien wurden verlassen und neue beansprucht, Völkerwanderungen konfrontierten die frühen Menschen mit fremden religiösen Formen und Weltverständnissen. Aus dem »wir« wurde ein »wir und sie«, und mit einem Mal brauchten die Völker einen guten Kriegsgott dringender als einen Gerechtigkeitsgott. Die beiden wurden voneinander getrennt, als Konflikte zwischen den Gemeinschaften entstanden. Heute und in einer Welt, die durch neue Technologien und Kommunikationstechniken wieder vereint und kleiner wird, werden wir erneut zu einem einzigen Volk. Da werden sich auch die Kriegsgötter wieder verändern müssen.
    Für Menschen mit europäischen, persischen und indischen Vorfahren lassen sich die jeweiligen Begriffe für Gott auf die Worte
Djew,
Djeus,
Dyaus
aus dem Altindischen und Sanskrit zurückführen, mit Bedeutungen wie »Himmel«, »Strahlen« und »Erleuchtung«. Daraus hervorgegangen sind die Worte
Zeus,
für den höchsten Gott der Griechen, sowie
Jupiter,
für den höchsten Gott der Römer. Der lateinische
deus
oder Himmelsgott findet sich auch heute noch in englischen Worten wie
deity
(Gottheit) und
day
(Tag).
    Bei den frühen deutschen Stämmen, noch bevor sie zu Normannen, Goten, Vandalen und anderen wurden, gab es den indogermanischen
Deiwos
und den daraus abgeleiteten urgermanischen Himmelsgott
Teiwaz
oder den Kriegsgott
Tyr,
dem in der Geschichte von der Fesselung des Fenriswolfes die Hand abgebissen wird und der, wie Hilda Ellis Davidson, die hervorragende Expertin für das vorchristliche nördliche Europa, sagt, »nicht einfach nur ein roher Gott des Abschlachtens« war. [88]
    Frühe römische Reisende verstanden Teiwaz als ihren Gott Mars und nannten ihn Mars Thingsus. Das Thing war der Rat freier Männer, in dem Streitfälle geschlichtet wurden, und damit nicht nur einer der ersten bekannten Vorläufer eines Geschworenengerichts, das eine der Grundsäulen unseres Rechtsprechungssystems darstellt, sondern auch ganz allgemein eine Vorstufe unserer westlichen Gesetzgebungssysteme.
    Teiwaz war der Gott der Gerechtigkeit und der Gott der Schlacht. Er war der Schutzgott von Recht und Ordnung in der Gemeinschaft. Davidson zitiert Tacitus, den frühen römischen Historiker, der über die deutschen Stämme schrieb, dass in ihnen niemand ausgepeitscht, eingesperrt oder mit dem Tode bestraft werden dürfe, es sei denn, die Priester sagten es, »dem Gott gehorchend, der ihrem Glauben nach der Schlacht vorsteht«. Wenn der Gott der Schlacht die Verbrecher bestrafe, müsse er eindeutig als Unterstützer von Recht und Ordnung gesehen worden sein. [89]
    Das sollte diejenigen unter uns, die der jüdisch-christlichen Tradition entstammen, nicht überraschen. Auch unser Jehova fing im Grunde als Kriegsgott und Herr der Heerscharen an. Und es war dieser Herr der Heerscharen, der Moses die Gesetzestafeln gab. Teiwaz, oder Tyr, war einhändig, damit ein Spiegelbild von Núada Argatlám (dem mit der Silberhand) und einer der Götter, die dem Wohl der anderen einen Körperteil geopfert hatten. Er hielt ein Schwert in
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