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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen
Autoren: Karl Marlantes
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Männern und Frauen, mit denen sie zusammenarbeiten. Heute haben wir jedoch fast alle alten Soldaten in den Mannschaftsdienstgraden verloren. In den Armeen und Marineeinheiten früherer Jahrhunderte fanden viele arme und ungebildete Männer langfristig ein Zuhause. Das heutige Freiwilligenmilitär hat sich beträchtlich von dieser gesellschaftlichen Rolle entfernt. Sein Personal stammt aus der gebildeten Arbeiterklasse und der Mittelklasse, und wer nicht in der Lage ist aufzusteigen, wird für gewöhnlich ermutigt, den Dienst zu quittieren. So kommt es, dass die Mannschaftsdienstgrade fast nur aus jungen Leuten bestehen. Es gibt keine alten, einfachen Landser mehr, die Pfeife rauchend hart erarbeitete Weisheiten verbreiten. Heute müssen sich höherrangige ältere Soldaten aktiv in die Mannschaften hineinbewegen, um sich an der persönlichen Entwicklung der jüngeren Soldaten beteiligen zu können. Wenn ich einen Truppführer zum Zugführer machte, fragte ich den gewöhnlich noch im Teenageralter befindlichen Jungen nicht einmal, wie es ihm mit der größeren Verantwortung und der moralischen Belastung ging. Auch wenn ich nur drei Jahre älter war, ich
war
älter und hätte fragen sollen. Hätte
mich
jemals jemand so etwas gefragt, hätte das wahrscheinlich schon genügt, um mir die höhere Verantwortung deutlich zu machen.
    Bei einer Operation nördlich von Khe Sanh wurden wir frisch versorgt, und aus dem Versorgungshubschrauber kam schwitzend und fluchend die Karikatur eines übergewichtigen Top oder First Sergeant, der allerdings zum Gunner Sergeant degradiert und nach Vietnam geschickt worden war, weil er für die Jungs seiner Kompanie in den kargen Hügeln hinter Camp Pendleton mit Marine-Corps-Ausrüstung ein geheimes Schwimmloch angelegt hatte.
    Der ehemalige First Sergeant Michaels, oder »Gunny Mike«, wie er bald schon im ganzen Regiment genannt wurde, stand kurz vor der Pensionierung. Er trank zu viel. Er aß zu viel. Sein Herz war schwach. Wir konnten ihn keuchen und schnaufen hören, wann immer wir anhielten, sein Gesicht war rot angelaufen, und er weigerte sich, sich zu setzen, weil er Angst hatte, nicht wieder hochzukommen. Er beschwerte sich nie. Wenn ich ihn fragte, ob er in Ordnung sei, fuhr er mich an: »Ich-komme-verdammt-schon-wieder-in-Form-und-jetzt-lassen-Sie-mich-in-Ruhe.« Old Corps, bis ins Mark.
    Er zog etwa eine Woche mit uns durch den Busch, bis er schließlich ins Wanken geriet und auf einem sehr steilen Grat an einem sehr heißen Tag zusammenbrach. Der Sanitäter schickte Nachricht an den Chef. Gunnys Blutdruck ging durch die Decke. Wir würden ihn umbringen, wenn wir ihn nicht aus dem Busch schafften. An dem Abend beorderte der Chef Gunny Mike zurück an den Sammelpunkt des Regiments in der Vandegrift Combat Base, kurz VCB . Er erklärte Gunny, wir brauchten jemanden in der VCB , der dafür sorgte, dass uns unser Nachschub erreichte, und der das Versorgungszelt der Kompanie in Ordnung halten müsse, das immer in notorisch schlechtem Zustand sei, weil sich niemand darum kümmere. Das stimmte alles, aber Gunny Michaels kannte den wirklichen Grund. Ich sah, wie er die Lippen aufeinanderpresste und was weiß ich für Gefühle unterdrückte. Er salutierte. Niemand sonst salutierte im Busch.
    Von dem Tag an hatten wir eine Institution. Alle Kids der Kompanie, die krank wurden, Urlaub hatten, ins Land kamen oder nach Hause durften, alle kamen bei Gunny Mike durch. Er brachte sie zur Landezone, wenn sie zu viel Angst hatten, allein hinzugehen. Er setzte sich mit ihnen und einem kalten Bier hin und ließ sie sich die letzten Schrecken von der Seele reden, wenn sie zurückkamen. Er half ihnen, Briefe nach Hause zu schreiben.
    Einmal kam ich um drei Uhr morgens, nach einer durchzechten Nacht, auf meinem Weg zurück in die Berge in unser Versorgungszelt geplatzt. Da saß Gunny Mike und spielte mit einem einsamen Neuen Karten. Die blakende Kerze auf dem stählernen Vorratstisch warf zuckende Schatten auf die dunklen Zeltwände, die sich leicht in der feuchten Nachtluft hoben. Gunny hörte dem Jungen zu, der ihm nervös sicher seine ganze Lebensgeschichte erzählte, bevor er mit mir zwei Stunden später den unbekannten Schrecken entgegenflog, die ihn im Busch erwarteten.
    Wenn wir von einer Operation zurückkamen, gab es Eiscreme. Wenn wir wieder mal unsere Maschinengewehrläufe verbrannt hatten, lagen bereits welche als Ersatz da, die er unter großem Risiko aus Army-Hubschraubern organisiert
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