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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete
Autoren: Sharon Bolton
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    Prolog

    Vor elf Jahren
    Blätter und Matsch und Gras dämpfen jedes Geräusch, selbst einen Schrei. Das Mädchen weiß das. Kein Laut, den sie von sich geben würde, könnte jemals bis zu den Autoscheinwerfern und den Straßenlaternen einen halben Kilometer weiter dringen, zu den erleuchteten Fenstern der hohen Gebäude, die sie hinter der Mauer gerade noch ausmachen kann. Die nahe Stadt kann ihr nicht helfen, und Schreien kostet nur unnötig Kraft, die zu verschwenden sie sich nicht leisten kann.
    Sie ist allein. Eben war es noch anders.
    »Cathy«, sagt sie. »Cathy, das ist nicht witzig.«
    Es fällt ihr schwer, dem Ganzen etwas Witziges abzugewinnen. Warum kichert da also jemand? Dann ein anderes Geräusch. Ein kratzendes, schabendes Geräusch.
    Sie könnte weglaufen. Die Brücke ist nicht weit. Vielleicht schafft sie es ja.
    Wenn sie wegläuft, lässt sie Cathy zurück.
    Eine Brise rührt sich in den Blättern des Baumes, neben dem sie steht, und sie merkt, dass sie schon die ganze Zeit zittert. Vor ein paar Stunden hat sie sich für einen stickigen Pub und eine Heimfahrt in einem geheizten Bus angezogen, nicht für diesen Ort im Freien um Mitternacht. Da ihr klar ist, dass sie möglicherweise jeden Augenblick losrennen muss, hebt sie erst den einen und dann den anderen Fuß und zieht ihre Schuhe aus.
    »Mir reicht’s langsam«, verkündet sie mit einer Stimme, die nicht ihre ist. Sie tritt einen Schritt vor, weg von dem Baum, ein bisschen weiter auf den großen Felsbrocken zu, der vor ihr im Gras liegt. »Cathy«, sagt sie, »wo bist du?«
    Nur das Schaben antwortet.
    Bei Nacht sehen die Steine größer aus. Nicht nur größer, sondern schwärzer und älter. Und doch scheint der Kreis, den sie bilden, kleiner geworden zu sein. Sie hat das Gefühl, dass die Steine sich näher heranschleichen, mit ihr Ochs am Berg spielen. Dass sie nur noch einmal kurz weg-und dann wieder hinschauen müsste, schon wären sie nahe genug, um sie zu berühren.
    Unmöglich, sich mit so einem Gedanken im Kopf nicht umzuschauen, nicht aufzustöhnen, als eine dunkle Silhouette eindeutig näher kommt. Einer der hohen Steine hat sich geteilt, als ob ein Felsstück von einer Klippe abbricht. Das Felsstück löst sich und tritt vor.
    Da rennt sie los, aber es währt nicht lange. Eine weitere schwarze Silhouette verstellt ihr den Weg zur Brücke. Sie macht kehrt. Noch eine. Und noch eine. Dunkle Gestalten kommen auf sie zu. Fliehen ist unmöglich. Schreien ist sinnlos. Alles, was sie tun kann, ist, sich wie eine Ratte in einer Falle auf der Stelle zu drehen. Sie packen sie und zerren sie auf den großen, flachen Felsen zu, und zumindest eins wird ihr klar.
    Das Schaben, das sie hört, ist das Geräusch einer Klinge, die an Stein gewetzt wird.

 
    Teil 1
Polly
    »Die Brutalität des Mordes spottet
jeglicher Vorstellung und jeder Beschreibung.«
    Star, 31. August 1888
     

1
    Freitag, 31. August
    Eine Tote lehnte an meinem Auto.
    Eine tote Frau, die es irgendwie schaffte, mit ausgestreckten Armen aufrecht dazustehen. Ihre Finger umklammerten die Kante, wo die Beifahrertür und das Dach aufeinandertrafen. Blut spritzte in rhythmischen Wellen auf meinen Wagen. Jeder Schwall ergoss sich über den davor, bis das Muster auf dem Lack einem Spinnennetz zu ähneln begann.
    Gleich darauf drehte sie sich um, und ihr Blick begegnete dem meinen. Die Augen einer Toten. Eine tiefe Wunde klaffte in ihrer Kehle, und ihr Bauch war eine dunkelrote Masse. Sie griff nach mir. Ich konnte mich nicht rühren. Dann klammerte sie sich an mich, war verblüffend stark für eine Tote.
    Ich weiß, ich weiß, sie stand auf den Beinen, sie bewegte sich, das Blut pumpte weiter, doch es war unmöglich, in diese Augen zu blicken und sie in Gedanken als irgendetwas anderes zu bezeichnen. Ihr Herz schlug noch, und sie hatte immer noch ein wenig Gewalt über ihre Muskeln. Doch das spielte letztlich keine Rolle mehr. Diese Augen wussten, dass das Spiel aus war.
    Plötzlich war mir heiß. Bevor die Sonne untergegangen war, war es ein warmer Abend gewesen, einer von der Sorte, an denen die Gehsteige und Gebäude Londons sich an die Hitze des Tages klammern und einen mit einer Woge heißer Luft überfluten, wenn man ins Freie tritt. Das hier jedoch war etwas Neues, diese pumpende, klebrige Wärme. Diese Hitze hatte nichts mit dem Wetter zu tun.
    Ich hatte das Messer nicht gesehen. Doch jetzt konnte ich den Griff fühlen, der sich gegen mich drückte. Sie hielt mich so fest
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