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Dunkle Gebete

Dunkle Gebete

Titel: Dunkle Gebete
Autoren: Sharon Bolton
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umklammert, stieß sich das Messer selbst tiefer in den Leib.
    Nein, tun Sie das nicht.
    Ich versuchte, sie fortzuschieben, nur so weit, dass kein Druck mehr auf dem Messer war. Sie hustete, nur kam dieses Husten aus der Wunde in ihrer Kehle, nicht aus ihrem Mund. Etwas spritzte mir ins Gesicht, und dann drehte die Welt sich um uns.
    Wir waren hingefallen. Sie sank zu Boden und ich mit, schlug hart auf den Asphalt und stieß mir die Schulter an. Jetzt lag sie flach auf dem Gehsteig, starrte in den Himmel hinauf, und ich kniete über ihr. Ihre Brust hob und senkte sich – aber nur noch ganz schwach.
    Es ist noch nicht zu spät, dachte ich und wusste, dass das nicht stimmte. Ich brauchte Hilfe. Nichts zu wollen. Der kleine Parkplatz war verlassen. Hohe sechsund achtstöckige Wohnblocks umgaben uns, und einen Moment lang bemerkte ich eine Bewegung auf einem der Balkone, dann nichts mehr. Es wurde von Sekunde zu Sekunde dämmriger.
    Sie war erst vor wenigen Augenblicken angegriffen worden. Wer immer das getan hatte, war bestimmt noch in der Nähe.
    Ich griff nach meinem Funkgerät, klopfte meine Taschen ab und fand es nicht, und die ganze Zeit sah ich in die Augen der Frau. Meine Tasche war ein kleines Stück entfernt zu Boden gefallen, und ich streckte mich danach, tastete darin herum und fand mein Handy. Ich zitierte Polizei und Rettungsdienst zum Parkplatz vor dem Victoria House der Wohnsiedlung Brendon in Kennington. Dann merkte ich, dass die Frau meine Hand ergriffen hatte.
    Eine Tote hielt meine Hand, und es ging fast über meine Kraft, in diese Augen zu blicken und zu sehen, wie sie versuchten, sich auf meine zu fokussieren. Ich musste mit ihr sprechen, dafür sorgen, dass sie bei Bewusstsein blieb. Ich durfte nicht auf die Stimme in meinem Kopf hören, die mir sagte, dass es vorbei war.
    »Ist ja gut«, sagte ich. »Es ist alles okay.«
    Die Situation war eindeutig sehr weit davon entfernt, okay zu sein.
    »Hilfe ist unterwegs«, versicherte ich und wusste, dass ihr nicht mehr zu helfen war. »Es wird alles gut.«
    Wir belügen Sterbende, ging mir an jenem Abend auf, gerade als die erste Sirene in der Ferne ertönte.
    »Hören Sie das? Da kommen sie. Halten Sie durch.« Sowohl ihre als auch meine Hand waren klebrig von Blut. Das Metallband ihrer Uhr drückte sich in meine Haut. »Kommen Sie, nicht aufgeben.« Die Sirene wurde lauter. »Hören Sie? Sie sind fast da.«
    Rennende Schritte. Ich blickte auf und sah funkelndes Blaulicht, das sich in mehreren Fenstern spiegelte. Ein Streifenwagen hatte neben meinem Golf gehalten, und ein Constable in Uniform kam auf uns zugetrabt und sprach dabei in sein Funkgerät. Er erreichte uns und hockte sich hin.
    »Halten Sie durch«, sagte ich. »Sie sind da, wir kümmern uns um Sie.«
    Der Constable hatte eine Hand auf meiner Schulter. »Ganz ruhig«, sagte er, genauso wie ich es eben getan hatte, nur sagte er es zu mir. »Der Notarztwagen ist unterwegs. Ganz ruhig.«
    Der Polizist war Mitte vierzig, untersetzt, mit schütterem grauem Haar. Es kam mir vor, als hätte ich ihn vielleicht schon einmal gesehen.
    »Können Sie mir sagen, wo Sie verletzt sind?«, fragte er.
    Ich wandte mich wieder der Toten zu. Jetzt war sie wirklich tot.
    »Schätzchen, können Sie sprechen? Können Sie mir Ihren Namen sagen? Sagen Sie mir, wo Sie verletzt sind.«
    Kein Zweifel. Die blassblauen Augen starr. Der Körper regungslos. Ich fragte mich, ob sie wohl irgendetwas von dem gehört hatte, was ich zu ihr gesagt hatte. Sie hatte wunderschönes Haar, fiel mir jetzt auf, ein ganz helles Aschblond. Es war um ihren Kopf ausgebreitet wie ein Fächer. In ihren Ohrringen spiegelten sich die Straßenlaternen, und irgendetwas daran, wie sie durch die Strähnen ihres Haares hindurchfunkelten, kam mir vertraut vor. Ich ließ ihre Hand los und machte Anstalten, mich vom Gehsteig hochzustemmen. Sanft hielt mich jemand zurück.
    »Ich glaube, Sie sollten sich lieber nicht bewegen, Schätzchen. Warten Sie, bis der Notarztwagen da ist.«
    Ich brachte es nicht übers Herz zu widersprechen, also starrte ich weiter die Tote an. Blut war über den unteren Teil ihres Gesichts gespritzt. Ihr Hals und ihre Brust waren blutüberströmt. Blut sammelte sich unter ihr auf dem Gehsteig zu einer Lache, fand winzige Spalten im Pflaster, um darin entlangzurinnen. In der Mitte ihrer Brust konnte ich gerade noch den Stoff ihrer Bluse erkennen. Weiter unten war das unmöglich. Die Wunde in der Kehle war nicht die schlimmste
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