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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel
Autoren: C Fischer
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    Der Mann mit dem geflickten Brillengestell blieb stehen, wenn der Junge stehen blieb, und wenn der Junge weiterging, ging er auch weiter. Die ganze Zeit spürte der Mann den Druck der Pistole in der Ledertasche, die er mit beiden Armen gegen die Brust presste. Er achtete darauf, dass immer genügend andere Fußgänger vor ihm waren, Köpfe und Schultern, damit der Junge ihn nicht entdeckte. Er dachte, dass der Junge sich anders verhalten würde, wenn er ihn bemerkt hätte; wenn er wüsste, dass ihm jemand folgte, mit einer geladenen Pistole.
    Ich werde sie ihm nur zeigen, dachte der Mann. Ich werde sie ihm zeigen und ihm sagen, dass es genug ist, dass er sich in Acht nehmen muss.
    Es war eine schwüle Nacht für September. In der warmen Luft tanzten Mücken über den Ufermauern, und sie tanzten auch unter den Ästen der Ulmen und zwischen den Laternen. Die Glühbirnenketten über der Gracht spiegelten sich rot auf dem träge dahinfließenden Wasser. Aus den Pubs und Live-Sex-Lokalen schlug Musik auf die Gehwege, Gitarren und Bässe und Trommeln, begleitet von Gläserklirren und lauten Stimmen. Auf den Gesichtern der Passanten lag der Widerschein des bunten Lichts, ein violetter Schimmer, der aus den Fenstern der halbnackten Frauen in ihren kleinen Kabinen rechts und links der Gasse fiel.
    Der Mann mit der Pistole in der abgewetzten Ledertasche sah alles durch ein Spinnennetz feiner Sprünge, denn als der Junge ihm ins Gesicht geschlagen hatte, war seine Brille zu Boden gefallen, und das Gestell war zerbrochen und eins der Gläser gesplittert. Erst hatte der Mann versucht, den Schlag einfach so wegzustecken.Aber dann hatte er angefangen zu zittern, und er wollte nicht zittern, schon gar nicht vor dem Jungen, und als er gemerkt hatte, dass es trotzdem anfing, war er vom Hof gelaufen, und die ganze Zeit hatte er nur einen Gedanken gehabt: Er hatte an die Pistole in seiner Aktentasche gedacht und daran, dass es nun genug war; dass er es einfach nicht mehr ertragen konnte.
    Er ging schneller. Seine Bauchmuskeln verkrampften sich, und die durchgeschwitzte Hose scheuerte an seinen Beinen. Ihm war so heiß, dass er glaubte, Fieber zu haben. Die Haut auf seiner Stirn und den Wangen glühte. Immer wieder verlor er den Jungen für kurze Zeit aus den Augen, und dann spürte er sein Herz hämmern. Er spürte es am heftigsten in der Brust, aber auch am Hals und in den Ohren.
    Der Junge trug ein Skateboard unter dem Arm. Jetzt warf er es auf das Pflaster und rollte ein paar Schritte. Mit seinen ausgebreiteten Armen wirkte er, als flöge er über das Pflaster, eine anmutige, schlanke Gestalt, die federnd vom Bordstein auf die Straße und wieder auf den Fußweg sprang. Durch die Risse in seiner Jeans konnte man seine nackten Beine sehen. Das Scheppern der Rollen ging unter in dem Gelächter und Geschrei, der stampfenden Musik. An der nächsten Ecke sprang der Junge wieder ab und stoppte das Board mit einem Fuß, bevor er es mit dem anderen in die Luft wirbelte und mit der Hand auffing.
    Ich könnte ihm die Pistole erst zeigen, dachte der Mann, und dann könnte ich sie mir in den Mund schieben und abdrücken, vor seinen Augen.
    Er wollte, dass der Junge begriff. Er sollte begreifen, was er getan hatte, er und all die anderen; dass er ihretwegen nicht mehr leben konnte. Er wollte, dass der Junge seine Verzweiflung sah und aus seinem Tod etwas lernte. Ja, vielleicht war sein Tod eine gute Lektion.
    Es begann zu regnen. Der Regen war nicht sehr stark, aber einige Passanten gingen schneller, und es wurde noch schwieriger, den Jungen im Auge zu behalten. Nach ein paar Schritten lief ihm das Wasser in kleinen Rinnsalen über die Brillengläser, sodass derMann immer weniger sehen konnte. Der Sprung im rechten Glas teilte das Wasser und den Neonglanz, und er teilte auch den Jungen in zwei glitzernde, zerlaufende Hälften.
    Der Junge war stehen geblieben und starrte in eines der Fenster. Mit der freien Hand wischte er sich die Feuchtigkeit aus den Augen. Der Regen rann ihm in rot und blau schimmernden Bächen über das Gesicht. Er stand da und zog die Kapuze seiner dunkelroten Blousonjacke über den Kopf, und dann lachte er plötzlich auf und lief weiter.
    Warum lasst ihr mich nicht in Ruhe?, dachte der Mann. Warum hört ihr nicht auf, mich zu quälen? Er liebte sie doch, jeden Einzelnen; nicht alle gleich, aber es gab keinen, der ihm gleichgültig war, dem er nicht helfen wollte. Warum wollten sie seine Hilfe nicht? Warum stießen sie ihn
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