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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen
Autoren: Karl Marlantes
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und die Wut hat dir geholfen, dich stark zu fühlen. Vielleicht brauchst du diese Stärke eines Tages, wenn niemand da ist, der dir helfen kann. Aber jetzt war sie nicht nötig. Du kriegst dein Spielzeug auch zurück, ohne dass du jemandem wehtust.«
    Kindergärtnerinnen und Kindergärtner wiederholen ständig den einen bequemen Satz: »Versuch es mit Worten«, wenn ein Kind aggressiv wird. Die wesentliche Botschaft ist dabei, dass Aggressivität schlecht ist, was die gesunden Aspekte der Aggressivität ignoriert. So wird eine im Grunde gesunde Regung unserer dunklen Seite ausgeschlagen. Es gibt jedoch Gelegenheiten, in denen körperliche Aggression die angemessene Antwort ist. Wenn Ihnen beim Joggen ein Serienmörder auflauert, kommen Sie mit Worten nicht weiter.
     
    Eltern sollten zu Hause mit ihren Kindern raufen und ihnen zeigen, wie körperliche Aggression kontrolliert wird. Es macht Spaß zu raufen. Es macht Spaß, Dad (oder Mom) auf den Boden zu drücken. Es macht Spaß, ihnen etwas wehzutun. Aber die Kinder lernen auch, dass es mit dem Spaß aufhört, wenn es an schmerzhafte Würgegriffe und zu festes Armumdrehen geht. Sie lernen, dass der kleine Bruder zu weinen anfängt, wenn sich seine drei älteren Geschwister auf ihn legen.
    Raufen und Toben enden oft damit, dass jemand zu weinen anfängt. Weinen ist das Zeichen eines Kindes, dass die Dinge zu weit gehen. Kinder lernen. Sie müssen bis an diesen Punkt kommen, um herauszufinden, wann es genug ist. Eine verbreitete Reaktion auf Spiele, die zu Tränen führen, besteht darin, sie zu verbieten, weil sie einem der Kleinen wehtun. Verboten werden sollte aber nicht das Raufen an sich, sondern weiterzumachen, wenn ein Kind signalisiert, dass es zu weit geht. Kleine Kinder begreifen nur, was es bedeutet, den Punkt zu überschreiten, wenn sie ihn erreichen und es miterleben oder am eigenen Leib erfahren. Und sie werden wieder und wieder bis an die Grenze gehen.
    Was das Kind lernen muss, ist, dass der Angreifer aufzuhören hat, wenn sein Gegner es will. Die Eltern müssen versuchen, in ihm die Erinnerung an ähnliche Gefühle wachzurufen, wie sie das unterlegene Kind in diesem Moment empfindet. Die beste Möglichkeit dafür ist, die Spiele nicht zu unterbinden, denn früher oder später liegt jeder einmal unten. Und selbst unten zu liegen ist die beste Art, Empathie zu entwickeln.
    Empathie kann gelernt und gelehrt werden. Traditionell erlernen wir sie auf die harte Weise. Als ich in der Grundschule war, habe ich nie mit dem Gedanken einen Kampf angefangen, einem anderen Schmerzen zuzufügen, geschweige denn, dass ich gedacht hätte,
mir
könnte jemand wehtun. Es gab einfach einen Kampf. Schmerzen waren das Letzte, woran ich dabei dachte.
    Wenn wir unsere Kinder lehren, sich in ihr Gegenüber hineinzufühlen, müssen wir diese Empathie von Gefühligkeit trennen. Krieger brauchen Empathie, aber sie dürfen nicht in schwülstiges Mitgefühl verfallen. Mein Großonkel Charlie war Viehzüchter. In dem Sommer, als ich sieben war, bekam ich die Aufgabe, einen kleinen Bullen zu füttern, der von seiner Mutter abgelehnt wurde. Ich nannte ihn Ferdinand und weiß noch, wie ich ihm über das heiße, raue Fell gestreichelt und mit ihm geredet habe. Ich sah ihm in sein breites, weißes Gesicht und staunte, wie seine Augen ganz weiß wurden, wenn er sie verdrehte, um mich hinter ihm herankommen zu sehen. Ich zog mit ihm herum, und wir schoben uns zwischen Mutterkühen und Kuhfladen hindurch. Ich gab Ferdinand die Flasche und brachte ihm, was immer mir einfiel, Blumen, Süßes, Heu und Haferflocken aus dem Schrank von Großtante Sandra.
    Eines Morgens war Ferdinand verschwunden. Ich lief zurück zum Haus. »Tante Sandra, wo ist Ferdinand?« Sie sah mich an, die Hände voller Mehl, weil sie gerade einen Brotteig knetete. »Geh und frage deinen Onkel.« Also suchte ich Onkel Charlie, der auf seinem John Deere 40 saß und Heu machte, und stellte ihm die gleiche Frage. Er wollte wissen, ob ich Lust hätte, mit dem Pick-up in die Stadt zu fahren und einen Milkshake zu trinken. Dort an der Theke, unter den von der Decke hängenden Strohhalmhüllen, die von den Kids mit einem Kaugummi da hochgeschossen worden waren, erklärte er mir, wie eine Ranch finanziell überlebte, woher das Geld kam, mit dem er mir gerade meinen Milkshake gekauft hatte.
    Ich brach in Tränen aus. Charlie legte mir die Hand auf die Schulter. Als wir zurückkamen, sagte er auf Finnisch etwas zu seiner Tochter,
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