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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen
Autoren: Karl Marlantes
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nicht, einen klar definierten Feind zu schlagen, der uns zu schädigen versucht. Es obliegt uns, den Unterschied zu erkennen, um klarzumachen, ob unsere Truppen als Krieger oder Polizisten handeln. Wie ich zu Anfang dieses Kapitels sagte, wählen Krieger eine Seite. Polizisten können das nicht. Sie sind immer auf der Seite des Gesetzes.
    Wir können von jungen Männern nicht erwarten, dass sie die Arbeit von Polizisten tun, die extrem reif und abgeklärt sein müssen, ganz besonders nicht von Teenagern, denen man beigebracht hat, sich wie Krieger auf eine Seite zu schlagen und den Gegner mit all ihrer hitzköpfigen Leidenschaft, ihrer fehlenden Einsicht und, sehen wir es klar, fehlenden Reife zu bekämpfen (so ideale Waffen sie dadurch für den Staat auch sein mögen). Noch problematischer ist es, dass wir reife Polizisten nicht in Situationen bringen können, in denen es kein gemeinsam beschlossenes Recht gibt, auf dessen Boden sie agieren können. Wenn Sie in ein Gefängnis in diesem Land gehen, werden Ihnen die Gefangenen unisono bestätigen, dass es falsch ist, zu morden oder bewaffnete Überfälle zu begehen. In Afghanistan jedoch gibt es grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten darüber, ob es falsch ist, einer Frau Ohren und Nase abzuschneiden, weil sie ihren sie missbrauchenden Mann damit blamiert hat, ihm davonzulaufen. Auf welche Seite des Gesetzes stellen sich unsere reifen Polizisten dort? Auf die der Scharia, der Stammesgesetze, oder die der modernen Demokratien? Streitkräfte, die als Polizei handeln, brauchen die Legitimierung durch ein Gesetz, das als unvoreingenommen anerkannt wird. Wenn ausländische Truppen in Situationen gebracht werden, in denen sie die Polizistenrolle übernehmen sollen, ohne dass es einen Konsens über das sie legitimierende Gesetz gibt und sie von der örtlichen Bevölkerung unterstützt werden, können sie nur scheitern und hätten gar nicht erst entsandt werden dürfen. Wenn die nationale Polizei für die Einhaltung von Gesetzen (und einer gesetzlichen Perspektive) sorgen soll, die mit den örtlichen Gesetzen und Traditionen nicht übereinstimmen, sind statt ihrer Krieger vonnöten. Truppen loszuschicken verlangt jedoch die nüchterne Einschätzung, ob Zwangsmaßnahmen und Gewalt, um eine Änderung der Situation herbeizuführen, gemäß dem allgemein akzeptierten Gesetz als moralisch richtig gelten, besonders wenn uns jene, die nicht mit uns übereinstimmen, gar nicht bedrohen. Darüber hinaus ist eine sachliche, klare Einschätzung nötig, wie lange es dauern wird, bis die zwangsweise Befolgung in eine freiwillige übergeht. In Gesellschaften, in denen das allgemein akzeptierte Gesetz etwa zehn Jahrhunderte hinter dem akzeptierten Gesetz moderner Demokratien hinterherhinkt, könnte das Jahrzehnte dauern, und wenn wir unsere Krieger nicht für Jahrzehnte entsenden wollen, sollten wir es lassen und uns auf nicht militärische Formen des Drucks beschränken, um den gewünschten Wandel herbeizuführen. Wieder ist Südafrika ein Beispiel: Dort hat sich das Gesetz geändert.
    Zusätzlich zu ihrer erneuten Hinwendung zur Gerechtigkeit ändern sich die Kriegsgötter noch in einer weiteren wichtigen Weise. Diese Änderung ist seit Langem Teil unserer Mythologie. Das Kind von Ares und Aphrodite ist Harmonia, die Harmonie. Wie Graves es ausdrückt: »Auf den ersten Blick ist Harmonia ein seltsamer Name für die Tochter der Liebesgöttin und des Kriegsgottes; aber damals wie heute sind im Zeichen des Krieges Zuneigung und Eintracht eher noch stärker als gewöhnlich vertreten.« [93] Das ist sicher richtig. Meine Eltern redeten oft positiv von den Kriegsjahren, »als wir alle zusammenhielten«. Nicht unterschlagen werden sollen hier auch die unglaublich tiefen Verbindungen zwischen einzelnen Soldaten. Graves jedoch kommt nicht so weit, er bricht vorher ab. Meiner Meinung nach erklärt uns die Mythologie, dass innere, persönliche Harmonie das Ergebnis der Vereinigung Aphrodites mit Ares ist, der Zusammenführung von Liebe, Sex, Gerechtigkeit und Krieg. Ohne diese Zusammenführung gibt es keine Harmonie. Das Verhältnis von Aphrodite und Ares ist alles andere als widernatürlich, wie Graves es sieht. Es ist ein Schritt nach vorn in der menschlichen Bewusstheit, und je schneller wir ihn machen, desto weniger werden wir leiden. Es gibt Hinweise darauf, dass es gerade geschieht, endlich. Auf einer persönlichen Ebene bekennen sich Männer und Frauen zu ihren gegengeschlechtlichen Zügen.
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