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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Autoren: Rupert Mattgey
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Prolog
     
    Thannsüß liegt am Ende des Weges. Die schmale Straße, die sich den Großen Kirchner hinaufwindet wie eine urzeitliche Schlange aus Stein und Dreck, endet hier. Hinter den letzten Häusern des Ortes ist nichts als der dunkle und stille Tannenwald, dem das Dorf seinen Namen verdankt.
    Auf einem Felsplateau in 1.400 Metern Höhe, eingebettet zwischen die beiden Eiszungen des Grimboldgletschers, schmiegt sich Thannsüß an eine Wand aus grauem, zerklüftetem Stein. Die Wand schießt mehr als 600 Meter fast senkrecht in die Höhe. Auf dem Gipfel hoch über Thannsüß ruht seit Tausenden von Jahren der Gletscher.
    Er ruht nicht wirklich, denn in seinem Inneren arbeiten Kräfte, die größer sind als alles, was jemals von Menschenhand erdacht und gebaut wurde. Der Gletscher fließt und splittert, schmilzt und wächst, er bildet täglich neue Spalten, in denen ganze Dörfer verschwinden könnten, und verschließt andere Abgründe für immer. Turmhohe Eisblöcke ragen über den Rand des Gipfels hinaus, als wollte der Gletscher die Kräfte der Physik auf ihre Geduld hin testen. Ein unergründliches inneres Gleichgewicht hält sie dort in einer Balance, die allen Gesetzen der Natur zu widersprechen scheint.
    Zwei Gletscherzungen fließen zu beiden Seiten des Gipfels ins Tal hinunter. Sie schieben Moränen aus Stein und Dreck und pulverisiertem Fels vor sich her. Wo die Zungen enden, gähnen riesige Gletschertore im Eis, aus denen Schmelzwasserflüsse entspringen. Wenn das Wasser den Gletscher verlässt, ist es weiß wie Milch, voll von zermahlenem Gestein, das der Gletscher über Jahrtausende hin weg dem Gebirge abgerungen hat.
    Der Schmelzwasserfluss auf der Westseite des Berges wird von einer hölzernen Brücke überspannt, deren Planken ächzen, wenn ein Besucher sie überschreitet. Aber Besucher kommen selten nach Thannsüß.
    Wenn die Sonne im Herbst ihren höchsten Stand längst überschritten hat und direkt hinter dem Großen Kirchner untergeht, dann steht er groß und schwarz im Gegenlicht wie ein von Riesenhand gefertigter Scherenschnitt. Der Wind treibt Schneefahnen in rauen Böen über die Kante des Gletschers, und im Schein der letzten Sonnenstrahlen sieht es so aus, als stünde der ganze Berg in Flammen. Wenn die Sonne dann noch tiefer sinkt und der Himmel die Farbe des Abends annimmt, leuchten die Ränder des Gletschers glühend rot wie ein Stück Kohle im Ofen.
    Aber meist hüllt sich der Gipfel des Großen Kirchners in Wolken, die den Gletscher vor den Blicken der Menschen verbergen. Das Licht nimmt dann eine eigentümliche, trübweiße Färbung an, wie wenn man einige Tropfen Milch in einer Schüssel voller Wasser verrührt.
    An einem solchen Tag kam der Lehrer nach Thannsüß.

Kapitel 1
     
    Er schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad, trat auf die Bremse und brachte den VW Käfer abrupt zum Stehen. Der Feldweg, den er von der Hauptstraße aus eingeschlagen hatte, endete auf einer Lichtung mitten im Wald. Es war mehr als eine Stunde her, seit er die letzte Ortschaft durchquert hatte. Er spähte durch die beschlagene Windschutzscheibe nach draußen in den Nebel. Die Bäume am Rand der Lichtung wiegten sich leise im Wind. Er nahm die Karte vom Beifahrersitz und entfaltete sie auf dem Lenkrad. Dann zündete er sich eine Reval an und inhalierte tief. Er kurbelte das Fenster herunter und blies den Rauch nach draußen. Regentropfen prasselten auf seine linke Hand und auf die ausgebreitete Straßenkarte, auf der Thannsüß nicht verzeichnet war, und er kurbelte das Fenster ein Stück nach oben. Er konzentrierte sich auf die Straßenkarte und versuchte, seinen Weg bis nach Bruch zurückzuverfolgen. Er erinnerte sich an das Gasthaus, an dem er vorübergefahren war, und beschloss, dort nach dem Weg zu fragen. Vor der Windschutzscheibe trieben Nebelschwaden vorüber wie ein Zug rastloser Gespenster. Der Regen hämmerte auf das Dach des VW Käfers. Die ganze Nacht über hast du es gespürt, dachte er. Hast gespürt, dass der Regen kommt.
    Immer wieder hatten ihn die Schmerzen in seinem Bein aus seichtem Schlummer gerissen, ihn von der Grenze des Schlafes zurückgeholt in die mondhelle Enge seiner Dachgeschosswohnung im Münchener Süden. Neben ihm hatte Marie langsam und regelmäßig geatmet. Einmal hatte seine Hand sacht ihren Bauch berührt, aber sie hatte nur ein paar unverständliche Worte gemurmelt und sich auf die andere Seite gedreht. Sein Bein hatte im Rhythmus seines Herzschlags gepocht. Er hatte
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