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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt
Autoren: Markus Gabriel
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Über die Seele zurück. Aristoteles setzt (wie vor ihm schon Platon) das Denken den Sinnen entgegen. Seine Überlegung lautet, dass das Denken unsere verschiedenen Sinne koordiniert und auf einen einheitlichen Gegenstand bezieht. Wenn ich ein Wassereis sehe, es betaste, rieche und schmecke, sagt mir mein Denken, dass es sich bei alledem um denselben Gegenstand handelte. Doch warum sollte das Denken selbst eigentlich kein Sinn sein? Warum wird es den Sinnen (und damit tendenziell dem Leib insgesamt) entgegengesetzt?
    Es ist ziemlich merkwürdig, dass wir nur wenige naturwissenschaftliche Erkenntnisse des Aristoteles heute noch gelten lassen, jedoch ausgerechnet die Grundlagen seines Buches über die Seele so verinnerlicht haben, dass wir unseren Zugang zur uns umgebenden Dingwelt immer noch wie Aristoteles interpretieren. Dabei hätte es durchaus Alternativen gegeben. Schon einige antike indische Philosophen haben das Denken oder den Geist als Sinn neben anderen Sinnen gedeutet. Und ganz alltäglich drücken wir uns manchmal so aus, jemand habe einen Sinn für Musik oder für gutes Essen.
    In diesem Zusammenhang kann man einen Sinn als einen wahrheitsfähigen und damit irrtumsanfälligen Realitätszugang verstehen. Dies meinen wir ja, wenn wir das Sehen oder Riechen als einen Sinn verstehen. Wir haben Zugang zu einer Realität, der Sehwelt, der Riechwelt, und zwar so, dass wir uns auch täuschen können. Es riecht wie Hundefutter, ist aber ein schlecht gekochter Coq au Vin; es fühlt sich wie Seide an, ist aber ein Imitat.
    Wie verhält sich dieses erweiterte Verständnis unserer Sinne zur Sinnfeldontologie? Die Antwort ist sowohl naheliegend als auch überraschend. Unsere Sinne sind nämlich gar nicht subjektiv. Sie stecken nicht unter oder auf unserer Haut, sondern sie sind objektive Strukturen, in denen wir uns vorfinden. Wenn man hört, dass jemand an der Tür klopft, dann erfasst man damit eine objektive Struktur und keinen Sinneseindruck, der sich innerhalb unseres Körpers befindet. Denn man klopft ja nicht in unserem Körper, sondern an der Tür. Der Mensch ist weder in seine Schädeldecke noch in seine Seele eingeschlossen. Die gewöhnliche Sinnesphysiologie oder antike Seelenlehre, die uns leider bis heute bestimmt, behandelt uns so, als ob wir alle unter einem Locked-in-Syndrom litten, wie der Protagonist in Julian Schnabels Film Schmetterling und Taucherglocke oder in dem Antikriegsfilm-Klassiker Johnny zieht in den Krieg . Unsere Sinne sind aber gar nicht »in unserem Kopf«, wie Hilary Putnam einmal über die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke geschrieben hat. 98
    Noch einmal: Wenn ich sehe, wie Passagiere in den Zug einsteigen, sehe ich die Passagiere und keine mentalen Repräsentationen. Mein Sehsinn muss also real sein, er kann nicht außerhalb dessen stehen, was er sieht. Dies gilt auch für unseren Orientierungssinn. Auch dieser orientiert sich mitten in der Realität, den unendlich vielen Sinnfeldern, indem er selbst ein Sinnfeld erzeugt, einen Weg durch das Unendliche. Und noch viel weiter als jeder Sehsinn reicht unser Denken, das sich mit dem Unendlichen selbst beschäftigen kann. Deswegen kombiniert das Fernsehen im Medium von Qualitätsserien auch unseren Fernsinn, das Sehen, mit unserem Denken. Wir werden mit dem Sehsinn über diesen hinausgeführt, ohne es zu merken, was es dem Fernsehen auch erlaubt, eine vielkritisierte manipulatorische Funktion auszuüben.
    Alles, was wir erkennen, erkennen wir durch einen Sinn. Der Sinn ist dabei nicht innerhalb unseres Leibes, sondern genauso sehr »da draußen«, »in der Wirklichkeit« oder »in der Realität« wie Mäuse und Obstbäume. Dies bedeutet insbesondere, dass wir die Stellung unseres Fernsinns, des Sehens, auch noch einmal kritisch begutachten müssen. Denn wir stellen uns unsere Verortung in einem Weltganzen traditionell so vor, dass wir uns in einer Art riesigem Raumzeitbehälter befinden, dessen Ausmaße wir inzwischen durch Lichtverhältnisse, andere Strahlungen nichtsichtbarer Wellenlängen sowie insbesondere auch Gedankenexperimente bestimmen können. Ein Gedankenexperiment, wie die berühmten Gedankenexperimente Einsteins, besteht nicht aus bloßen mentalen Repräsentationen. Gedankenexperimente funktionieren wirklich. Wenn wir komplexe Tatsachen durch ein Gedankenexperiment entdecken, bemühen wir unseren Denksinn, der wie alle anderen Sinne auch wahrheitsfähig und irrtumsanfällig ist.
    Wir bahnen uns immer einen Weg durch das
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