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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt
Autoren: Markus Gabriel
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politisch verdächtige Kategorie sei und unterschwelligen Totalitarismus anzeige, darf man sich nicht davon abbringen lassen, Pollock, Homer oder eine Folge Seinfeld verstehen zu wollen. 56 Es gibt eben verschiedene Sinnfelder, die auf verschiedene Weisen zugänglich und interpretierbar sind. Daraus folgt keine Willkür. Die Romanistik ist ebenso objektiv und wahrheitsfähig wie die Physik oder die Neurowissenschaften, und den Letzteren gegenüber hat sie gar den Vorteil, dass man mit ihrer Hilfe etwa Marcel Proust oder Italo Calvino besser verstehen kann. Auch in einem Roman gibt es Fugen, die sein Sinnfeld strukturieren, auch in der Interpretation eines Romans können wir auf Diagonalprädikate hereinfallen.
    Das wissenschaftliche Weltbild beruht auf einer verzerrten Wahrnehmung von Rationalität. Es unterstellt, dass wir in all unseren Verstehensbemühungen darauf angewiesen sind, Hypothesen zu bilden und diese experimentell zu beweisen oder zu verwerfen. Vorgänge dieser Art sind sinnvoll, wo sie sinnvoll sind, doch sie sind nicht überall angebracht. Sie helfen uns, das Universum zu verstehen. Doch der Mensch und sein Sinnverstehen kommen nicht im Universum vor, wir kommen ihnen nur auf die Schliche, indem wir uns dem Geist oder dem Sinn interpretierend nähern – und zwar mit den ganz alltäglichen Mitteln der Kommunikation. Auf genau diesen Punkt hat zu Recht der Heidelberger Philosoph und berühmte Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer aufmerksam gemacht, als er schrieb: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.« 57 Dieser vielzitierte Satz findet sich in Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode , in dem er zeigt, dass die Deutung von Kunstwerken und das allgemeine Verstehen der menschlichen Welt von ganz anderer Art als unser Naturverständnis sind. Die menschliche Wahrheitsfindung komme ohne Methode aus, was nicht heißt, dass sie willkürlich oder völlig anarchisch ist.
    Wir verstehen unsere Mitmenschen nicht durch die Anwendung von verallgemeinerbaren Methoden. Wie wir unsere Mitmenschen verstehen, ist schon Ausdruck unserer Persönlichkeit, und unsere Persönlichkeit ist keineswegs nur die Summe unserer Ess-, Schlaf- und Paarungsgewohnheiten. Persönlichkeit ist vielmehr selbst so etwas wie ein Kunstwerk, weshalb die moderne Malerei oder das moderne Theater schon lange suggerieren, dass wir auch die Schauspieler oder Maler unserer selbst sind. Der Mensch ist gelebte Kreativität. Kreativität, Imagination und Originalität sind Anzeichen von Persönlichkeit, und sie sind aus den Geistes- und den Naturwissenschaften nicht wegzudenken. Werner Heisenberg, einer der größten und originellsten Wissenschaftler aller Zeiten, hat einmal geschrieben:
    Der Geist der Zeit ist wahrscheinlich ein ebenso objektives Faktum wie irgendeine Tatsache der Naturwissenschaft, und dieser Geist bringt gewisse Züge der Welt zum Vorschein, die selbst von der Zeit unabhängig sind und in diesem Sinne als ewig bezeichnet werden können. Der Künstler versucht in seinem Werk, diese Züge verständlich zu machen, und bei diesem Versuch wird er zu den Formen des Stils geführt, in dem er arbeitet.
    Daher sind die beiden Prozesse in der Wissenschaft und der Kunst nicht allzu verschieden. Wissenschaft und Kunst bilden im Laufe der Jahrhunderte eine menschliche Sprache, in der wir über die entfernteren Teile der Wirklichkeit sprechen können, und die zusammenhängenden Begriffssysteme sind ebenso wie die verschiedenen Kunststile gewissermaßen nur verschiedene Worte oder Wortgruppen in dieser Sprache. 58
    Das Scheitern des wissenschaftlichen Weltbildes liegt also nicht an der Wissenschaft, sondern an der unwissenschaftlichen Auffassung, welche die Wissenschaft vergöttlicht und in die verdächtige Nachbarschaft zur ebenfalls falsch verstandenen Religion bringt. Die Wissenschaften leisten keine Welterklärung, sondern sie erklären, was auch immer sie eben erklären können, ein Molekül, eine Sonnenfinsternis, eine Zeile in einem Roman oder einen logischen Fehler in einem Argument. Die Einsicht, dass es die Welt nicht gibt, hilft uns, uns der Wirklichkeit wieder anzunähern und zu erkennen, dass wir Menschen sind. Und Menschen bewegen sich nun einmal im Geist. Ignoriert man den Geist und betrachtet nur noch das Universum, verschwindet selbstverständlich aller menschliche Sinn. Das ist aber nicht die Schuld des Universums, sondern unsere eigene. Der moderne Nihilismus beruht also auf einem unwissenschaftlichen Fehler, dem Fehler
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