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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt
Autoren: Markus Gabriel
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oder eine bestimmte formale Struktur. Er behauptet also im Allgemeinen:
    Die Tatsachenmenge T ist relativ auf das
epistemische System S.
    Der Neurokonstruktivismus behauptet beispielsweise, dass die bunte Welt, die uns erscheint, relativ auf den menschlichen Organismus, besonders auf unser Gehirn ist. Gäbe es keine Gehirne einer bestimmten Art, wäre es nicht wahr, dass ich gerade – wieder einmal – im Zug von Århus nach Kopenhagen sitze, es draußen regnet und der Zug seit zwanzig Minuten an sehr vielen dunkelgrünen Wiesen und gelben Rapsfeldern vorbeifährt. Wenn während der Abfassung dieser Zeilen alle Gehirne im Universum verschwunden wären, wäre der Satz dem Neurokonstruktivismus nach falsch gewesen – es hätte keine fahrenden Züge und dunkelgrünen Wiesen gegeben. Ein hermeneutischer K onstruktivismus , also ein die Interpretation von Texten betreffender Konstruktivismus, könnte anders gelagert behaupten, dass Faust keine von seinen Lesern unabhängige Bedeutung hat. Ob es Hexen in Faust gibt, wäre dann eine Tatsache nur relativ auf eine bestimmte Interpretation.
    Nun können wir die einfache Frage stellen, ob es einen universalen Konstruktivismus geben kann, also einen Konstruktivismus, der behauptet, dass alle Tatsachen nur relativ auf ein wie auch immer näher zu bestimmendes epistemisches System bestehen. Und in der Tat gibt es Menschen, die undifferenziert behaupten, alles sei relativ, oder diejenigen, die meinen, dass wir uns von der Welt nur ein Bild, Modelle oder Theorien machen können. In diesem Fall wären natürlich alle Tatsachen, die den Konstruktivismus betreffen, ebenfalls relativ auf ein System, relativ auf den Konstruktivismus selbst. Doch dies würde bedeuten, dass wir die folgende sehr verschachtelte Situation einer unendlichen Tatsache erhielten:
    {[(T ist relativ auf S) ist relativ auf S] ist relativ auf S}
ist relativ auf S …
    In diesem Modell kann es nichts geben, worauf alles relativ ist. Alles ist relativ, aber es ist nicht der Fall, dass alles dieses Relative auf etwas, auf ein Letztes, relativ ist. Die unendliche Kette des Relativen hängt sozusagen in der Luft. Doch der universale Konstruktivismus soll die These sein, dass alles relativ ist. Wenn daraus aber folgt, dass es nichts gibt, worauf alles relativ ist, ergibt sich eine einzige, unendlich verschachtelte Tatsache. Doch auch dann wäre es ja einfach nur eine Tatsache, dass es eine unendlich verschachtelte Tatsache gibt! Es gäbe nicht auch noch eine unendliche Verschachtelung von unendlichen Verschachtelungen. So weit will man normalerweise nun wirklich nicht gehen.
    In einem Wort: Die Tatsache, dass alles konstruiert ist, erzwingt an irgendeinem Punkt eine unkonstruierte Tatsache. Wenn sie selbst konstruiert wäre, wäre die Allaussage, dass alles relativ ist, nicht einlösbar, da es gar keine Totalität von Bezugssystemen gäbe, kein »Alles«, von dem man dann behaupten könnte, es sei auf irgendetwas relativ.
    Diese Erkenntnis, dass der Konstruktivismus aus all den genannten Gründen falsch ist, ist die Erkenntnis eines Dings an sich, einer Tatsache an sich selbst. Wenn wir über Tatsachen philosophisch nachdenken und dabei erfolgreich Resultate verbuchen, erkennen wir Tatsachen, die genauso objektiv sind wie der Unterschied zwischen Katzen und Matratzen oder Proteinen und Photonen.
    Das Argument aus der Faktizität führt uns also zu einem Realismus der Vernunft , nach dem die menschliche Vernunft selbst eine Tatsachenstruktur hat, die wir wissenschaftlich untersuchen können. Die sogenannte »Außenwelt« oder das »Universum« sind deshalb keine privilegierten Tatsachenbereiche mehr. Ganz einfach gesagt: Wenn ich den wahren Gedanken denke, dass es regnet, gibt es zwei Tatsachen: erstens die Tatsache, dass es regnet, und zweitens die Tatsache, dass ich den wahren Gedanken denke, dass es regnet. Tatsachen finden sich folglich nicht nur auf der »Weltseite«, wie das wissenschaftliche Weltbild anzunehmen neigt, sondern auch auf der Seite dessen, der sich zu den Tatsachen auf dieser »Weltseite« verhält. Selbst wenn es keinen einzigen materiellen Gegenstand gäbe, gäbe es Tatsachen – etwa die Tatsache, dass es keinen einzigen materiellen Gegenstand gibt.
    Das Argument aus der Faktizität kommt deswegen zu dem Schluss, dass wir die Faktizität nicht hintergehen können. Es sind immer unkonstruierte Tatsachen im Spiel. Unsere Aufgabe besteht darin zu erkennen, worin diese Tatsachen bestehen. Wir verfahren
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