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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt
Autoren: Markus Gabriel
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könnte man bestimmte Farbmuster oder Bewegungsmuster im Film auf ihre Interaktion mit unserem Nervensystem untersuchen. Dies mag zwar für irgendeinen Zweck nützlich sein, trägt aber nicht wirklich zum Verständnis von Kunstwerken bei. Es spielt allenfalls eine untergeordnete Rolle für den Sinn von Picassos Blauer Periode, ob sie uns gefällt, ob sie unseren Körper anspricht, ob wir uns sozusagen wohl fühlen, wenn wir ein Werk aus dieser Schaffensphase betrachten. (Das ist im Übrigen eine Zielvorgabe, die von der modernen Kunst durch eine Ästhetik des Hässlichen, des Deformierten, Unheimlichen und Schrecklichen unterlaufen wird.) Um Picasso zu verstehen, braucht man eine Kombination aus kunsthistorischen Kenntnissen, kreativer Imagination und Offenheit für neue Deutungen. Insgesamt kann man die These aufstellen, dass die moderne Kunst sich bei jeder ihr bietenden Gelegenheit gegen das wissenschaftliche Weltbild stellt. Fast jede ästhetische Bewegung und jeder einzelne Künstler dementieren mit ihrem Werk die Position, Kunst sei letztlich auf naturwissenschaftliche Vorgänge zu reduzieren. Betrachten wir etwa eins von Jackson Pollocks »action paintings«, beispielsweise Number 8 von 1949.
    Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es sich hierbei einfach um Farbkleckse auf einem bestimmten farbigen Untergrund handelt. So gesehen, wären alle Werke Pollocks aus dieser Schaffensphase eigentlich gleich; man könnte nur eine subjektive Meinung haben und sagen, welches Bild einem am besten gefällt. Die Ursachen dafür könnte man dann neurowissenschaftlich erforschen. Wer Pollock auf diese Weise interpretiert, versteht aber nicht, womit er sich konfrontiert sieht. Denn die Werke sind dynamisch und auf komplexe, vielfältig verschiedene Weisen interpretierbar. Um ein »action painting« zu verstehen (und es nicht lediglich schön zu finden), kann man einer bestimmten Farbe folgen und diese Farbe etwa von links nach rechts gleichsam lesen. Man konzentriert sich beispielsweise auf die schwarze Farbe und folgt deren Spuren. Dabei beginnt der Gesamteindruck zu flimmern, und die schwarzen Kleckse und zufälligen Linien werden bedeutsam, sie bewegen sich. Nun kann man seinen Blick umstellen und etwa der grünen Farbe folgen – oder den Hintergrund selbst hervorheben und das Bild in anderen Richtungen lesen. Genauso geht man auch vor, wenn man ein klassisches figuratives Gemälde erschließt. Denn es handelt sich bei jedem Gemälde um Farben auf einer Leinwand, die so angeordnet sind, dass sich ein Sinnfeld erschließt.
    Pollock hat sozusagen ein Metagemälde produziert, das uns zeigt, wie wir eigentlich vorgehen, wenn wir ein Kunstwerk lesen: Wir folgen den Konturen seiner Farben und bewegen uns sinnverstehend über verschiedene Ebenen hinweg, erwägen verschiedene Deutungen, für die wir auf kunsthistorisches Hintergrundwissen und spontane Einfälle zurückgreifen, die wir mit anderen besprechen und diskutieren. Dieser Vorgang des Verstehens ist keineswegs völlig willkürlich, aber er ist frei. Die Freiheit des Verstehens von Kunstwerken besteht darin, dass wir etwas verstehen und gleichzeitig erleben, wie wir etwas verstehen. 55
    Das Verstehen einer persönlichen oder auch einer politischen Entscheidung oder eines Kunstwerkes ist weder rein biologisch oder mathematisch beschreibbar, noch ist es völlig willkürlich oder eine Sache bloßer Geschmacksfragen. Das wissenschaftliche Weltbild legt fälschlicherweise nahe, dass der Sinn der menschlichen Existenz übergangen werden kann, da es eine privilegierte Tatsachenstruktur geben soll, die im Wesentlichen mit dem Universum, dem Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften, identisch ist. Und in der Tat stellt das Universum keine Sinnfrage. Menschen, oder das von ihnen Gemachte, dagegen schon.
    Die deutschen Idealisten haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts Sinn, dessen Sinn es ist, verstanden zu werden, als G eist bezeichnet – daher haben die Geisteswissenschaften bis heute ihren Namen. Geist ist nicht bloß etwas Mentales oder Subjektives, sondern bezeichnet die Sinndimension des menschlichen Verstehens. Diese Dimension wird von den Geisteswissenschaften untersucht, und entgegen einer zu übereilten Verabschiedung des Geistes durch den postmodernen Konstruktivismus ist es wichtig, den Geist wieder zu rehabilitieren. Nur weil einige französische Philosophen des letzten Jahrhunderts, allen voran Jacques Derrida, der Meinung waren, dass das Wort »Geist« eine
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