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Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Das Testament der Jessie Lamb: Roman

Titel: Das Testament der Jessie Lamb: Roman
Autoren: Jane Rogers , Norbert Stöbe
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Sonn t agmorgen
    I m Haus ist es ganz still, jetzt, da er weg ist. Ich stehe vorsichtig auf, ohne umzufallen, und schlurfe ans Fenster. Die Aussicht wird teilweise von einer riesigen Leyland-Zypresse im Nachbargarten verdeckt. Niemand wohnt mehr in der Häuserreihe. Ich lehne die Stirn ans Fenster und schaue in den verwilderten Garten hinunter. Die kalte Glasscheibe beschlägt von meinem Atem, doch ich weiß, es ist zu hoch, um zu springen. Außerdem sind die Fenster abgeschlossen, und ich habe keinen Schlüssel. Ich tappe im Zimmer umher, stütze mich mit der Linken an der Wand ab, bis ich die Tür erreicht habe. Ich betätige erneut die Klinke, für alle Fälle.
    Er hat mir Käsesandwiches und eine Flasche Orangensaft in die Ecke gestellt. Offenbar ist er heute nicht da. Wenigstens brauche ich mir dann nicht seine ständigen Wiederholungen anzuhören und muss nicht mit ansehen, wie er weint, und mit anhören, wie er rastlos im Haus umherwandert. Jetzt habe ich Raum für meine eigenen Gedanken und Gelegenheit, mich ausschließlich mit mir zu beschäftigen. Ich teste wieder die Fahrradschlösser. Der silbrige Draht ist mit durchsichtigem blauem Plastik ummantelt. Er hat sie mir dreimal um jeden Knöchel gewickelt und dann abgeschlossen, wie Fußreife. Das dritte Schloss hat er unter den beiden anderen hindurchgeführt, zusammengesteckt und verschlossen. Die Fußreife sind zu eng, um sie über die Knöchel zu schieben. Meine Füße haben nur fünfzehn Zentimeter Spielraum. Deshalb muss ich schlurfen wie ein Kettensträfling. Ich muss die Reife ständig lockern, sonst zieht sich der, an dem das Verbindungsschloss befestigt ist, zu und kneift mich.
    Er hat mir einen Eimer mit Klappe und eine Rolle Toilettenpapier dagelassen, aber die Benutzung ist nicht einfach, denn ich bekomme die Beine nicht weit genug auseinander, um mich richtig hinzusetzen. Außerdem hat er mir als Beschäftigung ein Notizbuch und einen Stift hingelegt. Und an der Wand liegen mein Schlafsack und das Kissen. Der klapprige Heizkörper wird jetzt endlich warm, deshalb muss ich nicht mehr so frieren.
    Wenigstens verhält sich mein Verstand nicht mehr wie eine Ratte in der Falle. Er hat aufgehört, sich panisch umherzuwerfen und dem eigenen Schwanz hinterherzujagen. Schließlich kann der Mann mich nicht ewig hier festhalten. Ich muss es nur aussitzen.
    Vom vielen Weinen nehme ich oberhalb des Nasenrückens einen sonderbar angenehmen Schmerz wahr, und jetzt fühle ich mich, als könnte ich nie wieder weinen. Weil ich auf dem Fußboden geschlafen habe, bin ich ein wenig steif, aber alles in allem ist es gar nicht so schlimm. Es könnte schlimmer sein. Ich schlurfe wieder an den Wänden entlang, dann gehe ich zu dem Klapptisch und dem Campingstuhl, die er mitten ins Zimmer gestellt hat. Ich bringe mich in Position und setze mich. Ich schreibe meinen Namen auf die erste Seite des Notizbuchs: Jessie Lamb.
    Er möchte, dass ich mir Gedanken mache über das, was ich vorhabe. Aber ich habe nichts vor. Ich bin lahmgelegt; zur Untätigkeit verdammt. Fast kommt es mir so vor, als existierte ich nicht mehr – ich bin nicht mehr die Jessie Lamb, die energisch auf ihr Ziel zusteuert. Wenn ich die Schlüssel für die Fahrradschlösser, sagen wir, auf dem Boden liegen sähe – würde ich sie aufheben und die Schlösser öffnen? Würde es mir gelingen, mich zu befreien? Vielleicht würde ich so tun, als hätte ich sie nicht gesehen, und gefangen bleiben. In gewisser Hinsicht stellt es eine Erleichterung dar, gefangen zu sein und sich keine Gedanken machen zu müssen. Passiv zu sein, anstatt zu handeln.
    Er versucht, mir einen Ausweg aufzuzeigen. Damit ich ihm die Schuld geben kann, wenn ich ihn nicht nutze, anstatt mir selbst eingestehen zu müssen, dass ich ein Feigling bin.
    Ist es das, was du willst?
    Wie sollte ich mir sonst erklären, dass ich so dumm war, in sein Auto zu steigen, als er vorschlug, uns Omas Haus anzusehen?
    Du hast geglaubt, er wollte dir eine Freundlichkeit erweisen; du wolltest dich versöhnen.
    Ja. Aber er hatte bereits damit gedroht, alles zu tun, »um mich zu stoppen«. Hast du beim Einsteigen also gewusst , dass er dich einsperren würde? Hast du es dir insgeheim gewünscht?
    Ach, ich habe keine Lust auf das alles. Ist es nicht schon schlimm genug, dass er mir zusetzt? Da brauche ich mich nicht noch selbst zu quälen.
    Es scheint vernünftig zu tun, was er verlangt; und darüber nachzudenken . Ja. Es aufzuschreiben. Es mir zu
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