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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt
Autoren: Markus Gabriel
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hat farbenfrohe Charaktere wie Goethe so sehr verärgert, dass er deswegen eine eigene Farbenlehre verfasst hat. Man könnte meinen, Farben seien nur Wellen einer bestimmten Länge, die auf unser Sehorgan treffen. Die Welt an sich sei eigentlich völlig farblos, sie bestehe nur aus irgendwelchen Teilchen, die sich in einer mittleren Größenordnung zusammenfinden und sich gegenseitig stabilisieren. Genau diese These ist Metaphysik. Sie behauptet, dass die Welt an sich ganz anders ist, als sie uns erscheint. Nur war Kant noch viel radikaler. Er behauptete, dass auch diese Annahme – von Teilchen in der Raumzeit – nur eine Art und Weise sei, wie uns die Welt an sich erscheint. Wie sie wirklich ist, könnten wir überhaupt nicht herausfinden. Alles, was wir erkennen, sei von uns gemacht, und deswegen könnten wir es eben auch erkennen. In einem berühmten Brief an seine Verlobte, Wilhelmine von Zenge, hat Heinrich von Kleist den kantischen Konstruktivismus folgendermaßen veranschaulicht:
    Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. 3
    Der Konstruktivismus glaubt an Kants »grüne Brille«. Die Postmoderne hat dem hinzugefügt, dass wir nicht nur eine einzige, sondern ziemlich viele Brillen tragen: die Wissenschaft, die Politik, die Sprachspiele der Liebe, der Poesie, die verschiedenen natürlichen Sprachen, die sozialen Konventionen und so weiter. Alles sei nur ein kompliziertes Spiel mit Illusionen, in dem wir uns gegenseitig den Platz in der Welt zuweisen, oder einfach ausgedrückt: Die Postmoderne hielt die menschliche Existenz für einen langen französischen Kunstfilm, in dem alle Beteiligten sich darum bemühen, einander zu verführen, Macht über die anderen zu erlangen und sie zu manipulieren. Mit geschickter Ironie wird dieses Klischee im französischen Gegenwartsfilm in Frage gestellt, man denke etwa an Jean-Claude Brisseaus Heimliche Spiele oder Catherine Breillats Anatomie der Hölle . Amüsant und verspielt wird diese Option aber auch in David O. Russells I Huckabees zurückgewiesen, ein Film, der neben Klassikern wie Magnolia eines der besten Zeugnisse für den Neuen Realismus darstellt.
    Aber die menschliche Existenz und Erkenntnis ist weder eine kollektive Halluzination, noch stecken wir in irgendwelchen Bilderwelten oder Begriffssystemen fest, hinter denen sich die wirkliche Welt befindet. Der Neue Realismus geht vielmehr davon aus, dass wir die Welt so erkennen, wie sie an sich ist. Natürlich können wir uns täuschen, dann befinden wir uns unter Umständen in einer Illusion. Aber es stimmt einfach nicht, dass wir uns immer oder auch nur fast immer täuschen.
Der Neue Realismus
    Um zu verstehen, inwiefern der Neue Realismus eine neue Einstellung zur Welt mit sich bringt, wählen wir ein einfaches Beispiel: Nehmen wir an, Astrid befinde sich gerade in Sorrent und sehe den Vesuv, während wir (also Sie, lieber Leser, und ich) gerade in Neapel sind und ebenfalls den Vesuv betrachten. Es gibt also in diesem Szenario den Vesuv, den Vesuv von Astrid aus (also aus Sorrent) gesehen und den Vesuv von uns aus (also aus Neapel) gesehen. Die Metaphysik behauptet, dass es in diesem Szenario einen einzigen wirklichen Gegenstand gibt, nämlich den Vesuv. Dieser wird gerade zufällig einmal aus Sorrent und ein andermal aus Neapel betrachtet, was ihn aber hoffentlich ziemlich kaltlässt. Es geht den Vesuv nichts an, wer sich für ihn interessiert. Das ist Metaphysik.
    Der Konstruktivismus hingegen nimmt an, dass es in diesem Szenario drei Gegenstände gibt: den Vesuv für Astrid, Ihren Vesuv und meinen Vesuv. Dahinter gebe es entweder überhaupt keinen Gegenstand oder doch keinen Gegenstand, den wir jemals zu erkennen hoffen könnten.
    Der Neue Realismus hingegen nimmt an, dass es in diesem Szenario mindestens vier Gegenstände gibt:
    1. Der Vesuv.
    2. Der Vesuv von Sorrent aus gesehen
(Astrids Perspektive).
    3. Der Vesuv von Neapel aus gesehen
(Ihre Perspektive).
    4. Der Vesuv von Neapel aus gesehen
(meine Perspektive).
    Man kann sich leicht klarmachen, warum diese Option die beste ist.
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