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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt
Autoren: Markus Gabriel
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Es ist nicht nur eine Tatsache, dass der Vesuv ein Vulkan ist, der sich an einer bestimmten Stelle auf der Erdoberfläche befindet, die derzeit zu Italien gehört, sondern es ist ganz mit demselben Recht ebenfalls eine Tatsache, dass er von Sorrent aus soundso und von Neapel aus eben anders aussieht. Selbst meine geheimsten Empfindungen bei der Betrachtung des Vulkans sind Tatsachen (auch wenn sie nur so lange geheim bleiben, bis es einer komplizierten App für das iPhone 1000 Plus gelingt, meine Gedanken zu scannen und online zu stellen). Der Neue Realismus nimmt also an, dass Gedanken über Tatsachen mit demselben Recht existieren wie die Tatsachen, über die wir nachdenken.
    Sowohl die Metaphysik als auch der Konstruktivismus scheitern dagegen an einer unbegründeten Vereinfachung der Wirklichkeit, indem sie die Wirklichkeit entweder einseitig als die Welt ohne Zuschauer oder ebenso einseitig als die Welt der Zuschauer verstehen. Die Welt, die ich kenne, ist aber immer eine Welt mit Zuschauer, in der Tatsachen, die sich nicht für mich interessieren, zusammen mit meinen Interessen (und Wahrnehmungen, Empfindungen und so weiter) bestehen. Die Welt ist weder ausschließlich die Welt ohne Zuschauer noch ausschließlich die Welt der Zuschauer. Dies ist der Neue Realismus. Der alte Realismus, sprich die Metaphysik, interessierte sich nur für die Welt ohne Zuschauer, während der Konstruktivismus recht narzisstisch die Welt und alles, was der Fall ist, auf unsere Einbildungen gründete. Beide Theorien führen zu nichts.
    Man muss also erklären, wie es Zuschauer in einer Welt geben kann, in der es nicht immer schon und nicht überall Zuschauer gibt – eine Aufgabe, die in diesem Buch durch die Einführung einer neuen Ontologie gelöst wird. Unter O ntologie versteht man traditionell die »Lehre vom Seienden«. Das altgriechische Partizip »to on« bedeutet auf Deutsch »das Seiende«, und »logos« heißt in diesem Zusammenhang schlichtweg »Lehre«. In der Ontologie geht es letztlich um die Bedeutung von Existenz. Was behaupten wir eigentlich, wenn wir zum Beispiel sagen, dass es Erdmännchen gibt? Viele Menschen glauben, dass sich diese Frage an die Physik oder ganz allgemein die Naturwissenschaften richtet. Schließlich sei alles, was existiert, doch wohl materiell. Wir glauben doch auch nicht ernsthaft an Geister, die beliebig gegen die Naturgesetze verstoßen können und unerkennbar um uns herumschwirren. (Nun, die meisten von uns tun das nicht.) Doch wenn wir deswegen behaupten, dass nur dasjenige existiert, was sich naturwissenschaftlich untersuchen und mittels Skalpell, Mikroskop oder Hirnscanner sezieren oder ins Bild bringen lässt, wären wir weit über das Ziel hinausgeschossen. Denn in diesem Fall würden weder die Bundesrepublik Deutschland noch die Zukunft, die Zahlen oder meine Träume existieren. Da sie das aber tun, zögern wir ganz zu Recht, die Physiker mit der Frage nach dem Sein zu betrauen. Wie sich zeigen wird, ist die Physik, nun ja, voreingenommen.
Die Vielzahl der Welten
    Vermutlich wollen Sie seit Beginn der Lektüre wissen, was es nun genau mit der Behauptung auf sich hat, dass es die Welt nicht gibt. Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen und nehme deswegen vorweg, was später mit Hilfe nachvollziehbarer Gedankenexperimente, Beispiele und Paradoxien bewiesen wird. Man könnte meinen, die Welt sei der Bereich alles desjenigen, was ohne unser Zutun einfach so existiert und uns umschließt. Heutzutage sprechen wir etwa bedeutungsvoll vom »Universum« und meinen damit jene unendlichen Weiten, in denen zahllose Sonnen und Planeten ihre Bahn ziehen und die Menschen in einem ruhigen Seitenarm der Milchstraße ihre bescheidene Zivilisation aufgebaut haben. Das Universum existiert auch tatsächlich. Ich werde nicht behaupten, dass es keine Galaxien oder Schwarzen Löcher gibt. Aber ich behaupte, dass das Universum nicht das Ganze ist. Genau genommen ist das Universum ziemlich provinziell.
    Unter dem U niversum hat man sich den experimentell erschließbaren Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften vorzustellen. Doch die Welt ist erheblich größer als das Universum. Zur Welt gehören auch Staaten, Träume, nicht realisierte Möglichkeiten, Kunstwerke und insbesondere auch unsere Gedanken über die Welt. Es gibt also ziemlich viele Gegenstände, die man nicht anfassen kann. Indem Sie gerade die Gedanken über die Welt nachvollziehen, die ich Ihnen vorführe, verschwinden Sie ja nicht
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