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Warum es die Welt nicht gibt

Warum es die Welt nicht gibt

Titel: Warum es die Welt nicht gibt
Autoren: Markus Gabriel
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aus den gleichnamigen Filmen?
    Wenn wir herausfinden wollen, was das Ganze soll, müssen wir zunächst einmal alles vergessen, was wir zu wissen glauben, und von vorn anfangen. René Descartes hat die philosophische Grundhaltung zu Recht dadurch charakterisiert, dass man zumindest einmal in seinem Leben an allem, woran man sonst glaubt, zweifeln sollte. Hängen wir also einmal unsere gewohnten Überzeugungen an den Nagel und fragen – wie Außerirdische oder wie Kinder –, wo wir uns eigentlich befinden. Denn bevor wir uns die Frage stellen, was das Ganze eigentlich soll , scheint es sinnvoll zu sein, die Frage zu beantworten, was das Ganze eigentlich ist .
    In Buddhas kleiner Finger (2009), einem vielgelesenen russischen Roman der Gegenwart, stellt eine Figur mit dem bezeichnenden Namen Pjotr Pustota (dt. Peter Leere) die folgende Überlegung an: Moskau befindet sich in Russland; Russland befindet sich auf zwei Kontinenten; die Kontinente befinden sich auf der Erde; die Erde befindet sich in der Milchstraße und die Milchstraße im Universum. Doch wo befindet sich das Universum? Wo befindet sich der Bereich, in dem sich all das Genannte befindet? Befindet er sich etwa nur in unseren Gedanken, die über diesen Bereich nachdenken? Aber wo befinden sich dann unsere Gedanken? Wenn sich das Universum in unseren Gedanken befindet, können diese sich nicht im Universum befinden. Oder doch? Belauschen wir die beiden Protagonisten bei ihrem sokratischen Gespräch:
    Wir stießen an und tranken. »Wo ist die Erde?« »Im All.« »Und wo ist das All?« Ich überlegte einen Moment. »In sich.« »Wo liegt dieses ›in sich‹?« »In meinem Bewusstsein.« »Daraus folgt, Petka, dein Bewusstsein steckt in deinem Bewusstsein.« »Das folgt daraus, ja.« »So«, sagte Tschapajew und strich sich den Schnurrbart glatt, »jetzt hör mir mal genau zu. An welchem Ort befindet es sich?« »Ich verstehe nicht ganz … Der Ortsbegriff ist auch eine Kategorie des Bewusstseins, so dass …« »Wo ist der Ort? An welchem Ort befindet sich der Ortsbegriff?« »Sagen wir, an gar keinem Ort. Besser wäre zu sagen, die Reali…« Ich sprach nicht zu Ende. So läuft der Hase!, dachte ich. Gebrauchte ich das Wort »Realität«, würde er mir wieder mit meinen Gedanken kommen und mich fragen, wo sie sind. Und sagte ich dann, sie seien im Kopf … ein ewiges Pingpong. 7
    Damit hat Peter den schwindelerregenden Gedanken, dass es die Welt nicht gibt, erfasst. Letztlich findet alles in einem großen Nirgendwo statt. Der Originaltitel des Romans lautet in einer buchstäblicheren Übersetzung Tschapajew und die Leere, und sein inzwischen weltberühmter Autor, der russische Schriftsteller Viktor Olegovič Pelevin, gibt uns mit dem Titel eine Antwort auf die Frage, wo wir uns befinden: Wir befinden uns im Universum, und dieses befindet sich in der Leere, im Nirgendwo. Alles ist von einer großen Leere umgeben, was an die Unendliche Geschichte von Michael Ende erinnert, in der die kindliche Phantasiewelt, Phantásien, bekanntlich ständig davon bedroht ist, vom Nichts verschlungen zu werden. Alles findet nur in unserer Phantasie statt, und außerhalb dieser befindet sich das Nichts, das unsere Phantasien bedroht. Deswegen, so lautet bekanntlich die Botschaft des Romans, müssen wir die kindliche Phantasiewelt hegen und pflegen und dürfen auch als Erwachsene nicht aufhören zu träumen, da wir sonst dem Nichts verfallen, einer völlig bedeutungslosen Realität, in der nichts mehr einen Sinn ergibt.
    Die Philosophie beschäftigt sich mit den Fragen, die durch Romane wie Buddhas kleiner Finger , die Unendliche Geschichte , durch Filme wie Christopher Nolans Inception oder Rainer Werner Faßbinders unvergleichlich besserem Vorläufer von Matrix , dem Fernsehfilm Welt am Draht , aufgeworfen werden. Diese Fragen wurden nicht erst in postmodernen Romanen oder der Popkultur des 20. und 21. Jahrhunderts gestellt. Die Frage, ob die Wirklichkeit nur eine Art gigantischer Illusion, ein bloßer Traum ist, hat tiefe Spuren in der menschlichen Geistesgeschichte hinterlassen. Sie wird seit Jahrtausenden überall dort gestellt, wo es Religion, Philosophie, Dichtung, Malerei und Wissenschaft gibt.
    Auch die moderne Naturwissenschaft stellt einen großen Teil der Wirklichkeit in Frage, nämlich diejenige Wirklichkeit, die wir sinnlich erfahren. Galileo Galilei etwa, ein weiterer verurteilter italienischer Ketzer, hat schon in der Frühen Neuzeit bezweifelt, dass es Farben
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