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Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
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versucht, sich irgendeines Vorfalls zu entsinnen, eines Anlasses, der Gabors Hass geweckt haben könnte. Aber ihm fällt nichts ein. Was hat Gabor gemacht in den siebzehn Jahren, bald achtzehn, seit dem Abitur? Studiert offenbar, und sonst? Zu Klassentreffen ist er nie gekommen, sicher ist er eingeladen worden, er wird schon auf irgendwelchen Kontaktlisten stehen. Gabors Arm ruckelt gleichmäßig, im Angesicht einer strangulierten Uniformträgerin. Da packt August die Wut, er hebt Steinchen auf und wirft sie gegen das Fenster, es prasselt. Gabor schrickt auf und dreht sich, ohne aufzustehen, zum Fenster, wirft einen kurzen Blick über die Schulter in die Nacht, zeigt sein unverändertes Gesicht. August kauert hinter dem Sofa, und Gabor onaniert weiter. Warum zieht er nicht mal die Vorhänge zu? Aber er hat ja keine; aber er könnte ja welche anbringen; aber wer soll ihn in diesem Hof schon sehen? Gabor befriedigt sich mehrmals, hängt dazwischen je ein paar Minuten im Stuhl. Er scheint ja in Hochform zu sein, körperlich topfit. Dann, plötzlich, wie angeekelt, schaltet Gabor den Bildschirm aus, das Foto der Gehängten verschwindet, er reißt den Stecker raus, zieht sich die Hose aus, springt auf, sinkt rücklings auf den Boden. Da liegt er, völlig nackt, zwischen Papieren und Kleidern. Ihm muss heiß sein, er atmet schnell, schwitzt, er ist wirklich sehr muskulös geworden, scheint viel trainiert zu haben in den Jahren. August friert, er beneidet ihn um den Radiator, obwohl es drin auch nicht sehr warm sein kann; fröstelnd empört er sich, was fällt dem ein, meinen Namen für so ein Spiel zu missbrauchen? Bibbernd, durchgeweicht vom Nieselregen, zerschlagen und müde, geht August neben dem Sofa in die Hocke, auf eine Ebene mit Spanplatten und Müllbeuteln; also was soll der Mist, denkt er noch und wird dämmrig. Ein Flugzeug landet neben ihm, aber die Passagiere steigen auf der anderen Seite aus, er sieht sie nicht, hört zwar ihre Stimmen, kann sie aber nicht zuordnen, sich ihre Gesichter nur vorstellen; eine Tanzcombo vielleicht, gelandet, um ein Gastspiel zu geben. Oder steigen sie ein, um davonzufliegen, auf Welttournee? Über ihm schüttelt jemand die Betten aus und seufzt dabei, das Flugzeug verschwindet unter einem Berg von Federn, und jemand ist an ihn herangetreten. Gestalten, Geräusche, Berührungen, ihm ist kalt, sehr kalt ist ihm, jemand macht sich an seinen Füßen zu schaffen, er hört wen kichern, sind es Kinder? Vielleicht decken sie ihn zu, decken ihm die kalten Füße zu, das ist ja nett.
    Als er aufwacht, ist Tag. Abfalltonnen, Sofa, Sperrmüll sind mit einer dicken weißen Schicht überzogen. Er kauert noch immer in der Hocke, seine Knie tun weh, sein Nacken ist verspannt, ein Ziehen in allen Muskeln und Sehnen; und er hat nur Socken an, durchnässte Socken. Ratlos lässt er sich auf den Hintern plumpsen und schaut hoch. Der Himmel ist leuchtend blau, aber die Sonnenstrahlen gelangen nicht in den Lichtschacht, der Boden ist kalt. Die Luft allerdings ist trocken, die Feuchtigkeit fort, im Schnee gebunden. Er zieht die nassen Socken aus und legt sie neben sich. Unfassbar, ihm sind im Schlaf die Schuhe ausgezogen worden, die guten Lederschuhe; und das, obwohl er im Hocken geschlafen hat. Er fasst in die Innentasche seines Jacketts, das Portemonnaie ist noch da. Er steht auf und geht ans Fenster. Da liegt Gabor, noch immer auf dem Rücken, nackt, genau wie er sich gestern Nacht hingelegt hat. Das Knöpfchen am Radiator leuchtet orange, auf der Innenseite des Fensters hat sich Kondenswasser gebildet. Die Stromrechnung muss horrend sein. Vielleicht waren die Kinder hier, um sich über Gabors Anblick zu amüsieren? Bestimmt kennen sie ihn, bestimmt ist er der Narr des Viertels. August geht.

    Richtung Osten schlendernd, hat er die Sonne im Gesicht. Barfuß achtet er mehr auf den Weg als auf die Umgebung, er will nicht in Hundehaufen oder Glasscherben treten, wer weiß, was sich unter dem Schnee verbirgt. Auf der anderen Straßenseite sieht er ein Schuhgeschäft, er geht hinüber. Es wird erst um zehn öffnen, darüber freut er sich, denn es ist schön, barfuß rumzugehen; so viele Kilometer ist er jetzt gelaufen, einen ganzen Sommer lang und den Herbst, er hat einfach nicht aufhören können, aber erst jetzt geht er barfuß durch die Stadt. So kommt er auf einen weiten Platz, der in hellem Licht liegt, ein riesiger Spiegelkasten verdoppelt den morgendlichen Sonnenschein: ein stillgelegtes Multiplex.
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