Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wach (German Edition)

Wach (German Edition)

Titel: Wach (German Edition)
Autoren: Albrecht Selge
Vom Netzwerk:
immer bewegt, als ob er bloß wen nachmachen würde, und alles, was er gemacht hat, hat er gemacht wie unter Vorbehalt. Aber er war wieder zurück in seinem alten Leben, bei der Frau, den Kindern, den Freunden, saß am Abend auch oft hier im Gasthaus. Bis er eines Tages vom Dach gefallen ist. Er wollte eine schadhafte Stelle ausbessern und ist dabei gestolpert, ein kleiner Fehltritt, aber leider kopfüber, er hat sich den Hals gebrochen. Man sollte nun meinen, und das ist ja auch das Wahrscheinlichste, dass er nach seinem Unfall eben doch nicht ganz wiederhergestellt war, an seiner Langsamkeit hatte man es ja sehen können, irgendwo im Gehirn war ein klitzekleiner Schaden geblieben oder zwei Synapsen schlecht verlötet oder was, und da hat es eben nicht schnell genug geschaltet, und er ist vom Dach gefallen. Aber genauso muss einem doch der Verdacht kommen, auch wenn er sicher nicht zutrifft, aber doch der Verdacht, dass der Fehler nicht darin bestanden hat, dass er vom Dach gestürzt ist, sondern dass der eigentliche Fehler schon vorher passiert war, als er aus dem Autowrack noch einmal lebendig rausgekommen ist, denn seine Zeit war abgelaufen, nur durch ein Versehen bekam er eine Zusatzfrist, bis der Fehler nach einer Weile behoben worden ist und er doch seinen Weg hat gehen müssen.

    Über diese Geschichte ist August immer noch unsicher. Was für eine fadenscheinige Story, hat, als sie auf ihre Zimmer hochgingen, seine Schwester geflüstert, erinnert er sich, und leise nachgeschoben: Und die Fäden hat der Wirt in der Hand, nicht die Parzen, mein Junge, wenn du diese Geschichte schluckst, dann schluckst du eine Parze mit Rotzbremse und Nackenspoiler. Der Stammgast hängt am Tresen, er ist jünger, als man denkt, nur ist er vertrocknet, braun wie der Efeu vor der Tür; der Dreibeinige liegt schlafend auf dem Boden. Zur Tür herein kommt ein Mann im nassen Sommermantel, er steht unschlüssig da, guckt sich im Raum um, dann geht er wieder hinaus. August blickt ihm durchs schlierige Fenster nach, der Mann (wirkt verwirrt) geht nach rechts, taucht gleich wieder auf, umkurvt eine kleine Pfütze (wie eckig er sich bewegt, anders als der amputierte Hund), geht ab nach links. Der Regen hat aufgehört, es ist wieder warm, drüben vorm Weinladen wird degustiert, im milden Licht von Gründerzeitlaternen liegt der vergitterte Eingang der historischen Markthalle, jetzt Qualitätssupermarkt.
    Halb gibt August seiner Schwester recht, halb nicht; nur hat er, falls er die Geschichte nicht abtun will, keine Ahnung, was er mit ihr anfangen soll. Hier im Schandfleck fühlt er sich von irgendeiner Ahnung weiter entfernt denn je. Wenn man den Kopf einmal ganz frei von allem machen könnte, für einen Moment nur, alle Schubladen der Erinnerung fest zugeschoben, nichts denken und nichts wahrnehmen, abgeschottet von allen Eindrücken: ein leeres Gefäß sein. Er schließt die Augen und versucht, sich herauszuheben aus dem Raum, der ihn umgibt, aus Gerüchen und Geräuschen. Aber das Gegenteil passiert: Indem er über das Gemurmel hinweghören will, hört er erst hinein, oder es fließt in ihn wie in einen offenen Behälter, im zuvor formlosen Lärm bilden sich Wörter, Satzfetzen, es zieht ihn in die Gespräche der Tischnachbarn: am Samstag meine ganze Wohnung geputzt einen halben Tag lang eigentlich mal wieder was von Theresa gehört scheitert alle Diskurstheorie halb zwei angefangen und bis elf weitergeputzt so nötig war’s was vermag Podiumsdiskussionsphilosophie gegen Private Equity et alii früher war Theresa öfter hier aber seit sie rübergezogen und immer wieder die Machtfrage Märtyrerposen und nichts als die Machtfrage Morrisseys abgenutzte Märtyrerposen saurer Wein Hedgefonds Investmentfonds der Wein im Schandfleck war immer schon sauer seine Zölibatposen ausschwärmende Heuschrecken war so eine Besonderheit von Theresa ein totes Pferd oder ausgekauter Kaugummi dagegen Barthes! denn ein Pasolini ist und wird Morrissey nicht sein nichts Befreienderes als einen halben Tag zu putzen bis zum Umkippen das Scheißbezirksamt Theresa, und schließlich bimmelt hinter Augusts Rücken ein Handy, Präludium C-Dur, und August bemerkt, dass er schon die ganze Zeit den Aschenbecher auf der Tischplatte hin und her schiebt, voll kalter Asche, nicht von ihm, und er wünscht sich wüstes Getöse oder vollkommene Stille, steht auf und geht hinaus in die – wenn man aus dem Schandfleck kommt –

    stille Mainacht. Nur August trägt seinen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher